Zoon politikon

Ich gehe am Nachmittag mit einem Sohn sein Material für die nächste Philosophie-Arbeit durch. Da geht es um das zoon politicon. Aristoteles, der Mensch als soziales, politisches Wesen, Gesellschaft brauchend und suchend etc. Der Mensch als zum Staatenbau und zur Gemeinsamkeit bestimmt.

Direkt danach der Anschauungsunterricht vor der Haustür.

Auf dem Abendspaziergang gehe ich durch die jubelnden, feiernden, tanzenden, singenden Menschen aus Syrien vor dem Hauptbahnhof. Einige Tausend werden es sicher sein, denke ich, von dreitausend Demonstranten spricht später der NDR. Reichlich Zulauf jedenfalls, sicherheitshalber werden Straßen um den Bahnhof gesperrt, Taxifahrer pöbeln aus Autofenstern, was das nun wieder soll. Viele Frauen und Kinder sind unter den Feiernden, die man auf den Bildern und Videos aus Syrien kategorisch nicht sieht. Hier finden sie mit statt.

Wie in Millionenstädten zu erwarten, gibt es bei uns oft Demos von Menschen aus anderen Staaten und Heimatregionen. Manchmal nimmt man erst durch diese Veranstaltungen überrascht zur Kenntnis, wie viele aus einem Land hier leben, und dann staunt man kurz im Vorbeigehen. Guck mal an, alle aus Ecuador, oder woher auch immer.

Meist sind diese Demos durch Wut oder Verzweiflung motiviert, fast immer, was auch nachvollziehbar ist. Dieses spontane Fest vor dem Bahnhof ist aber anders und auffällig, so selten kommen Menschen unter Fahnen zusammen, um sich zu freuen.

Im Hintergrund ziehen deutsche Fußballfans in den üblichen Kostümierungen durch die Wandelhalle und gucken irritiert, wenn nicht entgeistert. Normalerweise sind sie es doch, die hier als verhaltensauffällig zur Kenntnis genommen werden müssen und mit Fangesängen, spritzendem Dosenbier etc. die Szenerie lautstark zu beherrschen wissen. Normalerweise bekommen sie hier alle Aufmerksamkeit, die sie an den Spieltagen vermutlich auch zu brauchen meinen. Heute gehen sie da still und staunend als Komparsen am Rande vorbei und wissen nicht recht, was sie davon halten sollen. Aber gut finden sie es eher nicht, das sieht man ihnen an.

Noch weiter im Hintergrund und teils auf den Treppen nach unten zu den Gleisen, wie auf einen Auftritt im Theater wartend, die Truppen der Polizei. Zahlreich angetreten, in voller Randale- und Einsatzmontur, ruhig abwartend, sie stehen so vermutlich stundenlang. Und sie sehen, es ist eine spezielle Hamburger Ironie, im Dunkeln der weniger beleuchteten Bahnhofsränder aus wie ein schwarzer Block.

In den Timelines werden die Menschen aus Syrien währenddessen prompt und vielfach belehrt, dass sie sich nicht einfach zu freuen haben. Denn die Rebellen sind immerhin auch, haben auch, stehen auch für … und dann folgen die allfälligen Topcheckerkommentare.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich diejenigen, sie sich gerade freuen, sofort eines Besseren belehren muss, aber ich denke nicht. Die Topcheckerinnenkommentare können dennoch inhaltlich richtig sein, was weiß ich schon, es ist kompliziert.

Ich freue mich jedenfalls auch ein wenig, über einen Randaspekt, an den eher wenige zu denken scheinen. Ich freue mich darüber, dass die Ereignisse in Syrien so nicht vorhergesagt waren, auch vom allerkundigsten Topcheckteam nicht.

Man könnte das leicht auch negativ deuten, aber es hat eine positive Seite, glaube ich. Es gibt eben keinen geschichtlichen Fahrplan, an den sich alle Teilnehmenden halten und den alle routiniert hinnehmen, wie es geduldige Fahrgäste im städtischen ÖPNV gewohnt sind. Es sind Überraschungen möglich, Wendungen, Haken und Drehungen, auch schnelle.

Und da ich nicht der Einzige bin, dem die Weltgeschichte seit einigen Jahren wie eine stetige und fast schon programmgemäße, jedenfalls aber allzu vorhersehbare Verschlechterung vorkommt, ist dies eine zwar nicht neue, aber doch erfrischend wiederbelebte Erkenntnis. Es kann auch anders kommen, und nicht zwingend nur noch schlechter.

Was zwar weiterhin das Maximum an Optimismus ist, das mir gerade zur Verfügung steht – aber immerhin.

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Im Bild ein Rettungsring in der Hafencity. Warum auch nicht.

Ein Rettungsring an einem Kaigeländer in der Hafencity, sonniges Nachmittagslicht

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