Drei, vier Meter Ordnung

Ich gehe durch die Kälte. Ich friere und denke, was früher in meiner Familie geradezu zwanghaft gesagt wurde, wenn jemand sichtlich fror: Der Säufer und der Hurenbock, der frieret selbst im dicksten Rock. Im Sinne dieser Anklage betrachte ich mich in der aktuellen Lebensphase zwar als vollkommen unschuldig, aber egal. Dicker Pullover, dicke Winterjacke, alles egal, nichts hilft mehr. Mir ist kalt, wie immer im Februar. Ich habe keine Energie mehr übrig, um die Winterkälte noch abzuwehren.

Dennoch zum Einkauf gehen. Alles dennoch machen.

Ich gehe am Bücherschrank vorbei, der in einer alten Telefonzelle untergebracht ist und dafür sorgt, dass ich stets weiterhin weiß, wie es sich anfühlt, Telefonzellentüren zu öffnen. Eine Bewegung aus längst vergangenen Jahrzehnten. Ein Mann steht da gerade vor den Büchern, mit dem typisch schräggelegten Kopf des Interessierten. Also warte ich etwas ab, immer weiter frierend, fluchend und die Zeit abschätzend. Wie lange kann der brauchen, bis er da etwas findet, wie lange kann ich darauf warten. Was drängt noch alles an diesem Nachmittag, was muss noch gemacht werden und wann.

Andere brauchen immer länger als ich vor diesen Bücherschränken. Sie sehen sich Ewigkeiten einen Klappentext an, sie blättern versonnen in den Werken, sie lesen sich sogar fest. Sie strahlen manchmal eine Entspanntheit aus, die ich nur vom Hörensagen kenne.

Der Mann vor mir steht da jedenfalls wie angewurzelt. Und wie der steht, er steht und steht. Es dauert enorm lange, und nach einer Weile denke ich, dass es selbst für tiefenentspannte Menschen doch eher ungewöhnlich lange dauert. Ich gehe schließlich etwas näher heran und sehe nach, was er da eigentlich macht. Und warum er sich dabei so oft bis zum untersten Regal bückt, als sei das eine zu absolvierende Turnübung.

Ich sehe, dass er die Bücher, zweihundert oder mehr werden es wohl sein, sortiert. Alphabetisch. Sorgsam, akribisch und mit Muße. Er stellt sie dabei auch gerade hin. Er rückt alles zurecht, richtet die Reihen aus und verschiebt sie dann erneut ein wenig, wieder und wieder.

Selbstverständlich wird aber einer der nächsten Menschen, die dort etwas Lektüre herausgreifen oder dazustellen, alles wieder unordentlich machen. Wenn nicht sogar ein reines Chaos veranstalten, wozu leider viele bei öffentlichen Bücherschränken neigen. Auch so ein abgründiger Ausdruck von Zeiten und Sitten.

Wir haben nun die Wahl, wie wir das finden. Ob wir das vollkommen verrückt finden, was der Mann da macht, in seinem offensichtlich dezent durchgeknallten Ordnungsstreben – oder ob wir eher bemüht mitfühlend daran denken, dass wir doch alle einen Rest Ordnung brauchen in dieser Welt. Und warum nicht genau da. Wenigstens drei, vier Regalmeter mit System und Sinn, das ist nicht nichts. Das sind dann immerhin einige Meter, und also schon ein Stück Welt.

Irgendwo muss man eben anfangen. Wehrt Euch gegen die eskalierende Entropie, leistet Widerstand, wo Ihr nur könnt. Also gleich hier. Vielleicht ist das der Blickwinkel der Wahl.

Na, egal. Jetzt kurz aufräumen, dann zur Arbeit, dort etwas Ordnung in die Zahlen bringen. Was man so macht.

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

 

5 Kommentare

  1. Bei uns gibt es mehrere Personen, die die Bücher jeweils nach unterschiedlichen Kategorien sortierten.

    Vor ein paar Wochen bin ich jemandem begegnet, der mir noch sein übergeordnetes System erklärte, das die Ordnung mehrerer Bücherschrank in der Nähe kategorisiert. Dazu müssen, die Bücher den Schrank wechseln.

  2. Ich sitze hier im Café Inklusion und finde den Text hervorragend und sehr zum schmunzeln. Danke dafür. Gruß Katrin

  3. Eine schöne Gesichte. Danke fürs Teilen, Max. <3

    In unserem Quartier gibt es eine voll-automatisierte Mini-Filiale einer Bank. Konto-Auszugsdrucker (wird tatsächlich genutzt) und Bank-Automat. Ein kleines Räumchen an einer Haus-Ecke mit zirka fünf auf fünf Metern. Je ein breites Fenster-Brett zu beiden Straßen-Seiten hin.

    Nach und nach legten Leute Bücher, CDs und Magazine auf die Fenste-Bänke. Zunächst als Stapel, dann wurden sie mit dem Rücken nach oben geschlichtet – es wurden immer mehr. Die üblichen ausgelesenen Krimis und Romane aller Genre, sehr viel Sach-Literatur aller Disziplinen, Kinder- und Jugend-Bücher, Gedicht-Bände, bis hin zu dicken Geschichts-Wälzern und ausrangierter DDR-Schinken. Die Werke sind verfasst von Deutsch (vermutlich der Haupt-Anteil) über Englisch, Französisch, Ungarisch, Russisch. Erste Ukrainische Literatur habe ich ebenso schon entdeckt.

    Ende letzten Jahres hatte sich jemand die Mühe gemacht, ein Regal zur Verfügung zu stellen. Die großzügig bemessenen Regal-Flächen waren binnen 10 Tagen komplett belegt. Ich musste sehr lachen, als Beschriftungen am Rack auftauchten – fein säuberlich ausgedruckt mit einem Etiketten-Schreib-Gerät. Da versuchte ein Mensch tatsächlich in Genre zu unterscheiden. Dabei fiel mir erstmals Reise-Literatur und das "Sprachen"-Register auf. Sollte je etwas alphabethisch sortiert worden sein, war es zu dem Zeitpunkt, dass ich mit schrägem Kopf davor stand, wohl schon wieder in Unordnung eraten.

    Von Ernst Hemmingway (im Original), Alexandre Dumas, Jule Verne – über Immanuel Kant bis hin zu einem Loriot-Gechichten- und Hesse-Gedicht-Band habe ich dort bereits selbst zugelangt. Werke aus meiner Sammlung hinzugefügt.

    Kürzlich kam ich zur Tür herein geschneit und traf auf einen dieser fleißigen Bibliothekare. Vier Kisten voller Bücher hat er sortiert. Er erzählte mir, dass er die Lektüre über alle "Wilde Bücher"-Regale in Stuttgart zirkuliert. Wie er das genau macht, ist mir schleierhaft. Er scheint sich zu notieren, welche Werke über längere Zeiträume an einem Ort verhungern. Diese bringt er an einen anderen Standort. So rolliert bei uns das Angebot.

    Ist es nicht schön, wie jeder in unserer Gesellschaft eine sinn-stiftende Aufgabe für sich entwickeln kann? Etwas beitragen kann zum Gemeinwohl? Ich jedenfalls finde das großartig. Und ich mag diese Geschichten aus dem Alltag.

  4. Wir wurden gebeten, vor dem Einstellen von Büchern die ISBN unkenntlich zu machen, außen und innen. Es werden nämlich Bücher geklaut und per ISBN im Internet verkauft. Gibt zwar nur ein paar Cent, aber so war das mit den öffentlichen Regalen halt nicht gedacht.
    Nordschwarzwaldgrüsse nach Hamburg von
    Beate

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Time limit exceeded. Please complete the captcha once again.