Im Frühstücksraum am Abend

Ab und zu sollte man vielleicht auch einmal hören oder sonstwie zur Kenntnis nehmen, wozu man gar keinen rechten Bezug hat. Weil Tellerrand, weil Horizont, weil Komfortzone etc., Sie kennen das.

Daher weiß ich jetzt, was Scrunch-Leggings sind. Und ich würde sie nun im Alltag erkennen können, bisher kannte ich aber nicht einmal den Begriff. Ob mir das Wissen etwas nützt, das weiß ich nicht, aber immerhin habe ich gelacht, als der wunderschöne und bei diesem Thema unvermutete Satz fiel: „Am Ende frohlockt der Kapitalismus.“

Wie lange ich das Wort Frohlocken wohl schon nicht mehr wahrgenommen habe. In meinem Abreißkalender mit alten Begriffen standen gestern und vorgestern Spompanadeln und Menkenke, fällt mir dabei noch ein. Sprache ist doch ein besonders schönes Spielzeug.

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Außerdem habe ich heute einige Kurzgeschichtenzutaten für Sie. Aber es ist wie bei Ikea, sie müssen Sie schon nach Bildvorlage selbst zusammenbauen.

Das Bild sieht so aus: Ich gehe am Abend an einem Hotel vorbei. Was in diesem Stadtteil bei jedem Gang vor die Tür unvermeidlich ist, denn gefühlt ist jedes zweite Haus ein Hotel. Und wenn irgendetwas neu gebaut wird, dann wird es auch ein Hotel, man muss da nicht lange vor dem Bauzaun herumraten. Der Stadtteil ist winzig, aber nach den Übernachtungszahlen ist er ein Hamburger Riese.

Ich sehe im Vorbeigehen in das Fenster eines Frühstücksraumes. Es ist ein betont mittelmäßiger Frühstücksraum, und in der Mitte ist es einer vom unteren Rand, wie man sofort sieht. Günstig und zweckmäßig eingerichtet ist er, aber immerhin auch nicht schäbig. Man kann sich, wenn man nur diese Tische und Stühle sieht, das Frühstückbuffet am nächsten Morgen schon vollständig vorstellen und wird dabei kaum falsch liegen können.

Discounterware manierlich angerichtet, der eine Petersilienschnipsel auf den Käsescheiben (Gouda, jung), man könnte das auch zuhause so inszenieren. Also ich jedenfalls.

So kalte Beleuchtung, dass ein Maler wie Hopper seine Freude daran gehabt hätte. Die Nacht in den Straßen, in denen es nach Winterregen riecht, der, was sagt die App, in sieben Minuten beginnen wird. Und in der Februarnacht der Schein aus diesem Fenster.

Es ist kurz vor acht Uhr am Abend, und da wir in einen Frühstücksraum sehen, sind keine Gäste darin. Es gibt jetzt kein Frühstück. Alles ist aufgeräumt, zurechtgerückt und sieht einsatzbereit aus, Der Boden glänzt noch etwas feucht. In der einen Ecke des Raumes sitzt eine Frau vom Reinigungspersonal und trinkt eine Tasse Kaffee, vielleicht zum Feierabendbeginn. Betont gerade sitzt sie da, es sieht keineswegs entspannt aus. In etwa so sitzt sie da, als sei es nur eine weitere ihrer Aufgaben an diesem Tag, eine Tasse Kaffee an genau diesem Platz zu trinken.

In der anderen Ecke des Raumes, und zwar so weit entfernt, wie der Raum es eben hergibt, sitzt einer vom Sicherheitspersonal. Mit dem Wort Security erläuternd auf der Weste. Manchmal werden seit einigen Jahren in der Wirklichkeit Bilder durch gutlesbar beschriftete Menschen verdeutlicht, das vereinfacht das Beschreiben recht angenehm. Dieser Mann trinkt keinen Kaffee. Der sitzt da nur und guckt, knapp an der Frau vorbei. Also soweit man das im Vorbeigehen eben erkennen kann. Sein Gesichtsausdruck ist unbestimmt. Die Herzdame sagte neulich zu mir, als es um ein Foto ging: „Guck mal normal, also ins Leere“, und in etwa so sieht wirkt der Blick des Mannes.

Sie reden nicht miteinander, sie sehen sich auch nicht an. Sie sind etwa gleich alt. Denken Sie sich etwas, irgendetwas über die Herkunft und das Aussehen der beiden. Hier ist vieles möglich, denn es ist die Mitte einer Millionenstadt, in der die Szene stattfindet, es ist daher nahezu alles denkbar. Casten Sie geeignetes Personal, kombinieren Sie herum und schreiben Sie die nächste Regieanweisung.

Es liegt ja auf der Hand, dass etwas passieren muss, geben Sie dem Stück eine Richtung. Vielleicht aber besser ohne den Typen draußen vor dem Fenster einzubeziehen, der so merkwürdig interessiert hineinsieht, ich habe heute schon etwas anderes vor.

Das sind jedenfalls die Geschichten, an denen ich hier vorbeigehe. Auf einer Linie zwischen Edward Hopper und Aki Kaurismäki liege sie vielleicht, Fassbinder ist auch nicht weit weg. Die Namen passen etwas aufdringlich gut zu diesem Bild im Frühstücksraum am Abend. Ein wenig zu gut passen sie vielleicht, wie ich sofort einsehe und den Betrachtenden zugestehe. Es macht schon wieder misstrauisch und will womöglich auf die eine oder andere Art gebrochen werden, möchte man annehmen, vielleicht aber ist die Erwartung des Bruchs auch schon wieder zu vorhersehbar …

Und womöglich ist es alles ganz anders. Das liegt bei Ihnen.

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6 Kommentare

  1. Das Wort „Frohlocken“ hätte Ihnen doch aber im Weihnachtsoratorium auffallen können? Keine drei Monate her 🙂

  2. Ich musste bei der beschriebenen Szene direkt an die „Sachliche Romanze“ von Erich Kästner denken.
    „Sie gingen ins kleinste Cafe am Ort
    und rührten in ihren Tassen.
    Am Abend saßen sie immer noch dort.
    Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
    und konnten es einfach nicht fassen.“

  3. Nighthawks von Hopper passt perfekt zu Ihrer Szene im Frühstücksraum.
    „About Nighthawks Edward Hopper recollected, “unconsciously, probably, I was painting the loneliness of a large city.” In an all-night diner, three customers sit at the counter opposite a server, each appear to be lost in thought and disengaged from one another.“
    https://www.artic.edu/artworks/111628/nighthawks

  4. Ohne gewusst zu haben, wie diese Scrunch Dinger heißen (danke für die Aufklärung) dachte ich beim ersten Anblick derselben „man kann zwar angezogen, aber doch nackt sein“. Wir scheinen uns im Zeitalter einer um sich greifenden Kulturlosigkeit zu befinden, was sich politisch u.a. am Beispiel des mafiösen Trump Kabinetts und modisch an solchen „Schönheits“vorbildern wie z.B. den Kardahians abzeichnet.

  5. Diese Art Leggings heißen bei uns (sehr offensichtlich) „Ar$$$-Hosen“.
    Ich hab sogar welche, sind sehr bequem, aber ich ziehe sie selten in der zivilisierten Öffentlichkeit (also weiter raus als „kurz zum Bäcker“) an, sondern eher als Zuhause-rumgammel-, Sport- und Yogahosen. … oder halt als Legging unterm Rock, wo man den Scrunch-Part nicht sieht.

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