Gehört: Ein Kalenderblatt zum deutschen Griff nach Prag 1939 (5 Min.). Sie ist schon ein paar Tage älter, diese Sendung, aber tagesaktuell muss man diesen Bildungshappen eh nicht hören, und das Greifen nach anderen Ländern ist dummerweise gerade wieder en vogue, siehe Nachrichtenlage. Da passen geschichtliche Rückblicke leider gut ins Programm.
In der ARD-Audiothek findet man außerdem den Essay „Der Hass“ von Heinrich Mann aus dem Jahr 1933. Ebenfalls empfehlenswert und nur 13 Minuten lang.
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Außerdem gehört, thematisch stark kontrastierend, ein Zeitzeichen über den Dandy schlechthin, George Beau Brummell.
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Nach dem Besuch des neuen Riesendings am Hafen, siehe gestern, machte ich, was der künftige Durchschnittstourist vermutlich eher nicht machen wird und was eben das Problem ist, ich ging also zu Fuß zurück in die nun alte Innenstadt. Wenn Sie Hamburg nicht kennen, das ist ein Weg, der durch eine Autoschneise recht brutal zerschnitten wird. Und an der Überwindung dieser Schneise wird gerade eher nicht gearbeitet.
Also geistig vielleicht schon, das mag sein. Mit Schaufel oder Bagger jedoch nicht. Für den Moment gilt daher, dass es kein Weg ist, der einen zieht und lockt und verführt, der einem irgendwie naheliegend vorkommen würde oder auch nur touristisch gefällig.
Man kommt aber immerhin an der Speicherstadt vorbei, und das ist nicht ohne geschichtliche Pointe. Denn man kommt dann gerade aus diesen so riesig anmutenden Neubauten in der Hafencity. Die, aber ich bin da natürlich Laie, wohl überall auf der Welt stehen könnten. Am Flughafen von Dubai, in der Mitte von Buenos Aires, am Potsdamer Platz oder auch in einem großen Vorort von Paris. An einigen Stellen sind sie etwas originell, diese Bauten. Ein paar Winkel und Ecken sind anders als bei anderen, aber unterm Strich sind sie doch: Neubauten der Zeit. Man geht hinein und hindurch und könnte dabei überall auf der Welt sein, solange man dabei nur im Millionenstadtkontext bleibt. Man geht durch die Shops und Restaurants der globalisierten Welt, man könnte in diesem Moment Reisender, Expat, Heimatloser oder Nachbar sein.
Für eine Hamburger Verortung muss man bis auf Weiteres erst die Elbe vor der Tür zur Kenntnis nehmen. In einem Influencer-Video gestern sagte einer, der da durch die Tür in Richtung Fluss ging: „Ey, man kann hier sogar rausgehen!“ Ja, stark.
Und klar, man kann das mögen oder nicht, diese moderne Architektur. Manchen Blickwinkel mag sogar ich, und ich gehe sicher erheblich nach, was die Baukunst angeht.
Auf dem Weg ins Traditionszentrum von Hamburg kommt man dann aber an der Speicherstadt vorbei. Ich nehme an, ich kann meine Empfindungen da etwas verallgemeinern, denn es geht einem unwillkürlich ein wenig das Herz auf, wenn man diese berühmten alten Ziegelmauern sieht, die zu den Insignien der Stadt gehören. Die für uns von hier also Heimat im rührseligen Sinne sind. Die uns echt und hanseatisch verwurzelt vorkommen, die einen lokalpatriotischen Nostalgieflash auslösen können und auch längst sollen. Außerdem Weltkulturerbe, was will man mehr, da weiß man eben, was man hat.
Aber. Diese Speicherstadt, das kann man sich dann ruhig wieder bewusst machen, war damals das Ergebnis von harter Vertreibung der dort vorher wohnenden Menschen, die man heute als sozial benachteiligt bezeichnen würde (vertrieben wurden sie unter anderem ins auch damals schon lieblos und schnell hochgezogene Hammerbrook). Nachdem man die Speicherstadt dann dort errichtet hatte, wo diese anderen früher gewohnt hatten, wie wirkte sie da wohl? In ihren damals ungeheuren Ausmaßen? Übertrieben, riesig, wenn nicht gigantomanisch. Fremd, neu, zweckbaulich, kalt und abweisend. Man kann da recht sicher sein.
Denn so geht es zu in der Geschichte. Das meiste ist Deutung, wenig ist bloße Tatsache. Und die Urteile, die wir fällen, sie sind aus historischer Perspektive oft nur vorläufig, erstinstanzlich und ausdrücklich revisionsfähig.
Kurz nach der Speicherstadt dann jedenfalls die erwähnte Autoschneise, die den Hafen so gründlich von der Stadt abrennt. Wenn man die sieht und an ihr auf eine überlebbare Chance zur Querung wartet wie ein zögerndes Reh am Waldrand, fragt man sich heute vielleicht, ob die Stadtplanenden der Nachkriegszeit noch alle Latten am Zaun hatten.
Und weiß dabei, dass die Damen und Herren aus den Fünfzigern und Sechzigern des letzten Jahrhunderts höchst überrascht über diese Wertung gewesen wären. Es ist kompliziert.
Aber man kann singen, neben all den Gedanken, man kann das deutsche Liedgut pflegen, wenn man schon bei geschichtlichen Aspekten ist:
„Spät nachts kam ich nach Hause
und roch immer noch den Wind vom Nordatlantik,
ganze zehn Minuten Hamburg, aber schön war es doch.“
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Ich finde immer verblüffend, dass die Sprache so lange braucht, um hinterher zu kommen, etwa, dass diese Straßen immer noch unter „Lebensadern“ geführt werden. https://www.hamburg.de/politik-und-verwaltung/behoerden/behoerde-fuer-stadtentwicklung-und-wohnen/themen/stadtentwicklung/magistralen
Neubauten von heute als Heimat-Wahrzeichen von morgen also?
Siehe auch dieses „ach so hässliche“ moderne Eisen-dings, das zur Weltausstellung 1889 in Paris gebaut wurde und heute DAS Wahrzeichen der Stadt ist!
Oder ein Beispiel, das ich vor ein paar Jahren mitbekommen habe: der Streit um dem Bau der Waldschlösschenbrücke in Dresden, der letztlich dazu führte, dass die Stadt ihren UNECO-Welterbe-Titel verlor, weil das barocke Stadtpanorama und der seit Canaletto überlieferte Anblick) dadurch gestört wurde.
Da habe ich mich gefragt: Was, wenn die Brücke dort schon älter wäre – gehörte sie dann mit zum historisch verklärten Panorama?
Schon klar: Bauten von heute müssen nicht so aussehen wie vor ein paar Jahrhunderten. Viele aktuelle Neubau-Architektur heute finde aber auch ich langweilig und verwechselbar wahr.
Und ja: die große Hamburger Auto-Schneise habe ich auch schon als Problem wahrgenommen.
Möglicherweise gibt es einen M-Space, analog zu Pratchetts L-Space, also einen interdimensionalen Mall-Space, der sämtliche toten Einkaufszentren der Welt miteinander verbindet, und wenn man drinnen falsch abbiegt, zB auf der Suche nach dem Klo, und die falsche Tür öffnet, steht man auf einmal in Detroit oder Shanghai oder Kuala Lumpur.
Dandy – where you gonna go now..!?