Wenn man Schulkinder hat, lernt man natürlich noch einmal mit ihnen mit. Man denkt doch wieder darüber nach, was sich im Sonnensystem eigentlich um was dreht, man liest endlich wieder die Kommaregeln und auch die Sache mit den verschiedenen Wolkenformen nach und dergleichen mehr. Und man kommt bei vielen Themen verblüffend schnell an seine Grenzen. Aber nicht bei Mathe! Denn auch wenn man ein völliger Versager in Mathe war, dem Stoff der ersten und zweiten Klasse kann man natürlich locker folgen. Man liest im Schulbuch der Kinder kleine Additionsaufgaben und nette Zählspielchen, man sieht allererste Geometriezeichnungen, man kann sich dabei sehr souverän vorkommen. Alles so einfach hier! So kennt man Mathe gar nicht. Also ich jedenfalls nicht. Ich fand es damals nämlich überhaupt nicht einfach.
Mein Sohn hatte auch gerade einen Hänger, der saß einigermaßen ratlos vor Aufgaben wie etwa: “62 plus was ist 100?” Da muss man als Erwachsener nicht lange nachdenken, nicht wahr, das weiß man gleich. Aber wieso eigentlich? Wie macht man das, wie denkt man das? Wenn man das erklären will, muss man auch dem eigenen Denken auf die Spur kommen. Kümmert man sich erst um die Einer oder um die Zehner, was passiert im Hirn genau beim Rechnen? Zählt man, weiß man auswendig? Ich fand das wirklich interessant, und ich habe es meinem Sohn dann sehr gründlich erklärt, wie ich Mathe denke, wie man Mathe denkt, wie man Zahlen denkt, wie man Lösungen findet. Ganz geduldig habe ich ihm das erklärt. Langsam und wohlsortiert. Hätten meine Lehrer es mir damals doch auch kindgerecht so erklärt! Wie leicht wäre alles gewesen! Ich fand, dass ich wirklich gut erklären und darstellen konnte, das war mir vorher gar nicht klar. Ich hätte dem Sohn nicht nur Mathe, ich hätte ihm gleich die ganze Welt erklären können. Ein wirklich gutes Gefühl. Wäre ich vielleicht besser Lehrer geworden?
Der Sohn hörte zu, sah mich an, nickte und ging dann zu seiner Mutter. Und es war reiner Zufall, dass ich im Vorbeigehen hörte, was er ihr ganz leise sagte: “Weißt du, Papa redet komplett wirres Zeug.”
(Dieser Text erschien etwas kürzer als Kolumne in den Lübecker Nachrichten)
Mathe in der Grundschule ist manchmal echt merkwürdig, da werden von Kindern Dinge verlangt, die erst viel später wirklich erläutert werden.
Das obige Beispiel ist ja eigentlich eine Gleichung:
62 + x = 100
Um das zu lösen, muss man die Gleichung nach x umstellen. Aber das ist Stoff der 7. Klasse.
Gerne genommen auch Brüche (viertel Stunde, halber Kilometer) oder Dezimalzahlen (0,1 € = 10c). Was das bedeutet, kommt dann in Klasse 5. Das 0.1 km 100 m sind, aber 0.1 m 10cm, ist für einen 3.Klässler dann ein absolutes Rätsel…
Oh ja, ganz ähnliche Situation vor einer halben Stunde an unserem Küchentisch. Letztlich blieb mir nur dem Kind tröstend zu erzählen, wie auch mir die „Minus-Aufgaben“ das Leben schwer gemacht haben und das es hier nur die Übung leichter macht.
Ach ja, was habe ich gestaunt, als unser Sohn in der dritten Klasse DREI verschiedene Arten, schriftlich zu subtrahieren gelernt hat. Die gab es bei mir damals garantiert nicht… Und nach jeweils 5 minütiger Erklärung sollten sich die Kinder dann die Art raussuchen, die sie am leichtesten fanden. Haha, ich lache heute noch…..
Sehr schön geschrieben. Ich glaube, die korrekten Erklärungen in der Grundschule lauten: Ergänzen oder subtrahieren. Entweder ergänze ich von der 62 zur 100, d.h. ich zähle weiter, erst in Zehnerschritten, dann in Einerschritten. Oder ich ziehe die größere Zahl von der kleineren ab.
Ein guter Mathelehrer hat bei n Schülern mindestens n+1 Arten den Stoff zu erklären. (Berufscredo meines ehemaligen Mathelehrers. Einer von den guten wohlgemerkt.) (Und ich rätsel gerade, ob ich ein Komma vergessen habe. In meine Schulzeit fielen anderthalb Rechtschreibreformen, das hat mich in Bezug auf Kommaregeln nachhaltig verunsichert.)
Das war die beste Zeit meines Lebens. Meine Schulzeit und die meiner Kinder. Dazu mein Lieblingsgedicht von A. E. Housman (aus A Shropshire Lad).
Ins Herz fährt mir ein kalter Wind
Aus jenem weit entfernten Land:
Wo sind die blauen Hügel geliebt als Kind,
Wo Türme und Farmen, die ich gekannt.
Es ist das Land der verlorenen Zeit,
So strahlend rein wie zu Beginn,
Die frohen Wege lief ich weit
und komm‘ nie wieder dort hin.
Mit freudigem Herzen und einem kleinen Tropfen Wehmut (da fließt die Freude etwas langsamer und man hat länger dran).