Neulich habe ich Roger Willemsens “Der Knacks” gelesen, neulich ist George Michael gestorben. Und manchmal dauert es ja länger, bis zwei Gedanken so lange auf seltsamen Bahnen im Hirn herumgekreist sind, dass sie endlich einmal unerwartet zusammenstoßen und man so dasitzt und plötzlich denkt: “Ach guck. So war das. Das habe ich ja noch nie bewusst gedacht.”
Das, was da war, ist schon länger her. Ich lebte damals auf dem Land. Frau, nein, sehr schöne Frau, Haus, Garten, Karriere, nein, steile Karriere. Ein unsinnig weiter Arbeitsweg, den nahm ich für diese Frau gerne auf mich, das war ein kleiner Preis, und zwar ein ganz kleiner. Ich stand früh auf und kam spät nach Hause, im Sommer gingen wir abends noch mit dem Hund über die Felder und am Waldrand entlang, das war dann die Freizeit. Die Nachbarn grillten und hörten zu laut schlechte Musik zum Mitklatschen. Ein Idyll wie aus amerikanischen Suburbia-Romanen, da weiß man dann schon nach zehn, zwanzig Seiten, hier stimmt etwas nicht. Aber ich wusste das natürlich nicht, die Hauptfiguren verstehen ja immer alles viel zu spät, davon leben die Geschichten schon seit den Lagerfeuern. Die Hauptfigur sieht immer nur die besonders schöne Frau.
Im Garten wucherte der Giersch, wir hatten beide kein Interesse an Gartenarbeit, sollte er doch wachsen. Gartenarbeit! So trivial. Es sah im Sommer so aus, als würde das Haus schier im Giersch verschwinden, es war ohnehin nur ein sehr kleines Haus, ein kleines, enges Häuschen eigentlich. Die Pflanzen wuchsen, die Probleme wuchsen, wir sahen entschlossen weg, wir wollten nicht an die Wurzeln. Erst hinterher durchschaut man immer die Metaphern einer Lebensphase und begreift dann nicht, was man alles übersehen hat, es war doch so überdeutlich arrangiert.
Es gab einen Videoclip, damals liefen noch Videoclips im Fernsehen, von George Michael: “Spinning the wheel.” Den sah ich gerne, wenn der lief, drehte ich lauter und sah genau hin. Zum einen wegen der jazzigen Retro-Stimmung, zum anderen auch wegen der einen Backgroundsängerin. Außerdem war die Melodie gut und ganz anders als bei den sonstigen Songs zu der Zeit, diese fingerschnippende Lässigkeit war eher unüblich. Ich habe nicht gemerkt, dass da noch etwas in dem Videoclip war. Da wurde, heute ist das lächerlich deutlich, etwas gezeigt, was ich nicht hatte, aber doch dringend haben wollte: Nachtleben. In dem Clip gab es unklare Liebesbeziehungen, Verwicklungen, Andeutungen, Rausch. Halbseidene Szenen in einem dunklem Schwarzweiß, in dem man nicht alles sah, schon gar nicht alles verstand, in dem man aber überall mal eben seinen Verstand ablegen konnte. Das wollte ich auch. Ich habe es nur nicht gleich gemerkt.
Es dauerte noch ein paar Jahre, dann habe ich dieses Nachtleben nachgeholt. Ich habe mich mit einem mir heute gar nicht mehr begreiflich erscheinenden Mut in eine mir reichlich fremde Welt gestürzt, einfach weil das so sein musste und auch nicht mehr anders ging, das war alternativlos, wie man heute sagt. Und ich habe mich da ein, zwei Jahre auf eine Weise amüsiert, die mir vorher nicht bekannt war, die wohl auch nicht wiederholbar ist. Jahre mit Szenen, über die ich mich heute noch manchmal freue, wenn sie mir wieder einfallen. Jahre mit Menschen, von denen ich nicht wusste, wie sehr sie mir immer schon gefehlt hatten. Man hat vermutlich unverschämtes Glück, wenn es eine solche Phase überhaupt im Leben gibt, so eine Phase, über die man immer noch leise lacht, wenn man sich plötzlich erinnert, auch nach Jahren noch. So gründlich habe ich mich da amüsiert, dass diese Zeit bis heute in keinem Buch vorkommt, in keinem einzigen Blogeintrag, in keinem Artikel.
Irgendwann habe ich dann die Herzdame am Rande einer dieser Nächte kennengelernt, und es begann eine ganz andere Geschichte. Das Rad drehte weiter und alles war sehr gut, so wie es war. Spinning the wheel. Ein gar nicht mal so unwichtiger Song für mich. So im Nachhinein betrachtet.
<3
„So war das“: dafür ist das so liebens- und lesenswert, was @Buddenbohm da schreibt. herzdamengeschichten.de/2017/02/22/so-…
Jeder Mensch braucht Geheimnisse, von denen nur er allein zehrt, bloß nicht alles preisgeben!
Über den Sog des Nachtlebens und Mut, sich aus der überwucherten Enge zu befreien. Große @Buddenbohm Liebe.herzdamengeschichten.de/2017/02/22/so-…
Schön! Ich mag, wie dieser Text erst (und vielleicht auch nur in meinem Kopf) vermeintlich auf die Schilderung des schmerzlichen Todes einer Beziehung zusteuert, um dann unerwartet in einen Konfettiregen abzubiegen. Glückwunsch zu dieser Lebensphase!
ich würde gerne einfach: gefällt mir !
… aber als nich WordPress-User darf ich das nicht … schade eigentlich
gefällt mir trotzdem 🙂
„So gründlich habe ich mich da amüsiert, dass diese Zeit bis heute in keinem Buch vorkommt, in keinem einzigen Blogeintrag, in keinem Artikel.“ <3
Nachdem ich hier neulich den drei- oder sogar vierfach verschachtelten Rahmenhandlungseinstieg in Theodor Storms Schimmelreiter erwähnt habe, fiel mir noch eine andere etwas spezielle Erzählsituation ein, in einem Buch, das ich längst empfohlen haben wollte, im letzten Sommer schon, aber man kommt ja zu nix: “Der Garten über dem Meer” von Mercé Rodoreda, übersetzt von Kirsten Brandt, herausgegeben und mit einem kenntnisreichen und auffallend liebevollen Nachwort versehen von Roger Willemsen. Das Buch erschien beim Mare-Verlag, ich habe die Ausgabe der Büchergilde gelesen.
Das spielt in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts in Spanien, pardon, in Katalonien. Es geht um die Liebe, natürlich geht es um die Liebe, andere Bücher scheinen mich, wenn ich mir den Stapel auf dem Nachttisch ansehe, ohnehin nicht besonders zu interessieren. Um die Liebe unter jungen und betont feinen Leuten geht es, man hat Geld und zwar reichlich. Da verwickelt es sich, es geht hin und her, es wird auch dramatisch. Alles spielt auf einem größeren Anwesen in bester Lage an der Küste, man ist eben in der High-Society, man residiert. Erzählt wird das aber von jemandem, der der Handlung gleich drei- oder vierfach entfremdet ist. Es ist der alte Gärtner, der die Geschehnisse im Haus, das er nicht betritt, auf etwas unorthodoxe Weise wiedergibt, der Herr ist kein Autor, schon gar kein Romanschriftsteller. Der Spaß beim Lesen steigt, wenn man immer wieder darauf achtet, wie Mercé Rodoreda das nun hinbekommt, so eine Geschichte aufzubauen. Und wenn man sich ab und zu fragt, was man da als Leser eigentlich zu deuten hat – die Geschichte oder den Erzähler?
Die wahre Autorin des Buches übrigens kannte sich aus mit der Botanik, das merkt man dem Text auch an. Was ich dann teilweise bilderblind lese, weil ich als Naturbanause nicht zu jeder erwähnten Blume sofort ein passende Blüte im Kopf habe. Ich rate da dann googlefaul herum, das kenne ich schon aus den Romane des vorletzten Jahrhunderts, da duftet es auch dauernd aus den Gärten nach irgendwas und es sagt mir nichts, ich sage nur Heliotrop. Der Gärtner jedenfalls ist für Pflanzen zuständig, nicht für Menschen oder Geschichten. Aber beobachten kann man ja alles, was im Garten so vorkommt, Lupinen, Leute und Liebesgeschichten.
Der Gärtner ist wesentlich älter als die Hauptpersonen, er gehört einer anderen Schicht an, er wohnt in einem anderen, viel kleineren Haus am Rande des prächtigen Gartens. Er ist durch seine Generation, durch gesellschaftliche Konventionen und auch räumlich von der Liebesgeschichte in der Villa entfernt. Und wenn er auch nicht der sortierteste Erzähler ist, was er als Gärtner auch nicht sein kann, so ist er doch besonnen in seinen Betrachtungen und Stimmungen, was man von den jungen Leuten wiederum nicht behaupten kann.
Er arbeitet im Garten, seit vielen Jahren schon, er bekommt dabei nur nebenbei einiges mit, er ist nicht einmal übertrieben neugierig, er hält sich höchst anständig zurück. Er erzählt uns zwischendurch von den wenigen und bescheidenen eigenen Erlebnissen, immer wieder auch vom Blühen und Vergehen im Garten, der ihn vor allem anderen interessiert, der ihm auch wichtiger als die Geschichten im großen Haus ist. Wobei sich die Wichtigkeit des Gartens auch durch eine Geschichte erklärt, da ist man dann schon im Dickicht der Erinnerungen. Von den jungen Leuten, die er vom Garten aus gelegentlich beobachtet, spricht er mit Respekt und wohlwollendem Interesse. Weil er ein freundlicher alter Mann ist, reden die ab und zu gerne mal mit ihm, wobei die Distanz nie überwunden wird. Auch die anderen Dienstboten bekommen hier und da etwas aus der besseren Gesellschaft mit und fügen so in Erzählungen, in Vermutungen und in schnellem Klatsch nebenbei immer mehr Einzelteile zusammen, es ergibt sich eine Art Wurzelwerk der Geschichtchen, aus dem allmählich etwas anderes wächst.
Ein Garten ist keine Geschichte, ein Garten ist eine Bildersammlung, könnte man meinen. Ein Garten hat keinen Spannungsbogen, in einem Garten passiert alles zyklisch, ein Garten läuft auf nichts hinaus, er ist immer gegenwärtig. Und es ist wunderbar, wie es Rodoreda nur mit dem Blick des Gärtners, der im Garten gemächlich Blumenbilder und Erinnerungen arrangiert, zu einer ausgereiften Geschichte schafft, einer gar nicht mal so kleinen Geschichte, wie es sich bei Liebesgeschichten gehört, es geht am Ende natürlich um alles. Oder vielleicht geht es doch nur um ein saisonales Aufblühen, wer weiß. Die einen sagen so, die Gärtner sagen so. Wobei in dem Buch metaphorisch übrigens nichts überstrapaziert wird, auch nicht das Meer, das ebenfalls eine große Rolle spielt.
Ich kenne mich mit Gärten nicht aus, ich hatte nur einmal im Leben einen, an dem ich prompt grandios gescheitert bin, das hatte ich doch neulich gerade irgendwo geschildert? Ah ja, hier. Ich war zu jung und viel zu cool, um mich um Pflanzen zu kümmern. Blödes Blühzeug, egal. Das würde ich mittlerweile anders angehen, aber nun habe ich gerade keinen Garten. In diesem Buch von Rodoreda schien mir aber alles interessant, was den Garten betraf, sozusagen jedes einzelne Beet.
Es ist ein herrlich trauriges Sommerbuch, ungeheuer kunstvoll aufgebaut. Draußen zu lesen, wenn es denn geht, wenigstens auf einem Balkon oder zur Not auch neben dem Basilikum in der Küche bei offenem Fenster. Jedenfalls eine große Empfehlung für wärmere Tage.
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