Eine azurblaue Frauenschrift

Es gibt Muscheln. Macht aber nichts, es ist eh kein Monat mit r am Ende.

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Eine Vokabel zum Klimawandel, die mir bisher noch gar nicht geläufig war: The blob.

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Auf meinem Weg zur Arbeit komme ich an einem mehrteiligen Bauzaun vorbei, an einem dieser mannshohen Drahtgestelle auf Betonfüßen, mit Planen als Sichtschutz bespannt. Mit weißen Planen bespannt. Auf drei Segmente dieses Zauns hat jemand etwas gesprüht, einen großen Schriftzug, den kann man schon von ganz weit weg lesen. Je Segment nur ein Wort: “Peer lutscht Schwänze“ steht da. In einer erstaunlich manierlichen, irgendwie brav aussehenden Handschrift, in leuchtend blauer Schreibschrift auf weißem Grund. Ich lese das jeden Tag zweimal, auf dem Hin- und auf dem Rückweg, seit Wochen lese ich das schon und allmählich nervt es, denn es spricht ja doch vieles gegen diesen Satz. Obwohl da immerhin kein Nachname genannt wird, es sich also um jeden beliebigen Peer handeln könnte, von denen es sicher ein paar mehr gibt in dieser Stadt, selbst wenn man bedenkt, dass es ein eher seltener Name ist. Ich z.B. kenne keinen Peer, was ich jetzt nicht sage, um mich aus der angedeuteten Affäre zu ziehen. Ich kenne Peer nur als Zigarettenmarke und das auch nur von damals. Stünde jedenfalls auf dem Zaun ein Nachname dabei, es ginge hier eindeutig um besonders schützenswerte personenbezogene Daten, aber so, einfach nur Peer – das steht zumindest nicht im Konflikt mit der DSGVO, um mal die wichtigste Frage zuerst zu klären, DSGVOmäßig machen wir da also erleichtert einen grünen Haken dran. Puh!

Was aber sind die anderen Fragen? Etwa ob dieser Satz mit beleidigender Intention geschrieben wurde oder nur zum Zwecke der Information. Wenn er beleidigend sein soll, dann ist das hier leider der falsche Stadtteil dafür. Ich möchte ja nicht mit meinem Viertel angeben, aber wenn bei Budni in der Kassenschlange ein älterer Herr im pinkfarbenen Latexkleidchen steht, dann ist das hier nicht dramatisch auffällig. So etwas kommt eben vor, who cares. Es ist gar nicht so einfach, auf sexuelle Praktiken oder Vorlieben zu kommen, deren explizite Benennung im Stadtteil glatt als abwertend durchgehen würde, am ehesten vielleicht noch: “plain vanilla.” Aber Schwänze zu lutschen, das ist hier definitiv kein Problem, das macht auf einem Bauzaun ungefähr so viel her wie: “Peer hat Sex” – und wer würde ihm das absprechen wollen. Sex ist irgendwie ganz okay, das ist meines Wissens immer noch breiter gesellschaftlicher Konsens. Schwänze zu lutschen, das ist hier also kein Problem, solange man es einvernehmlich in seiner, haha, Peergroup macht.

Vielleicht deutet die manierliche Handschrift – kommt, wir wollen Klischees reiten! – auf eine Autorin hin, eine in Liebesdingen enttäuschte Autorin vielleicht. Er hat sie trotz ihrer glühenden Liebe mit einem Mann betrogen, so etwas soll ja vorkommen. Und so wütend hat sie das gemacht, dass sie nachts nach wilder Diskussion aus der gemeinsamen Wohnung gerannt ist, nur mit einer blauen Spraydose dabei. Und sie hat sich schlagartig erinnert, wo sie neulich diesen herrlich weißen Bauzaun gesehen hat, der ihr jetzt auf einmal wie ein überdimensionierter Raum für Notizen vorkommt, den sie spontan befüllen kann, wobei sie dann aller Welt mitteilt, was ihr gerade intim und verletzend vorkommt. Sie sprüht und sprüht, sie setzt nach “Schwänze” ab, tritt einen Schritt zurück, sagt zufrieden: “Ha!”. Sie steckt die Dose wieder ein und verschwindet im Laufschritt um die Ecke, denn es fällt ihr erst nach der Aktion siedendheiß ein, dass die nächste Polizeiwache quasi um die Ecke ist und gerade durch diese Straße dauernd Peterwagen fahren.

Am nächsten Tag schon haben sich die beiden wieder versöhnt, Peer und die Dame mit der azurblauen Frauenschrift, seitdem hofft sie inständig, dass er nicht an diesem Bauzaun vorbeikommt, denn er würde sich natürlich angesprochen fühlen und auch noch ihre Schrift erkennen – und dann wäre es das aber gewesen, das mit der Versöhnung. Mit allen Tricks bringt sie ihn also seit Wochen von diesem Weg ab und stirbt tausend Tode, weil sie sich auch nicht traut, das da nachts in neuer Aktion zu übermalen, denn da müsste man ja auch richtig großflächig … Eine verdammt heikle Lage und bis das Hotel fertig ist, dessen Baustelle der Zaun da schützt, fehlen noch drei ganze Stockwerke. Der steht also noch eine Weile.

Aber geht das so auf? Kann es so gewesen sein?

Wenn der Satz andererseits informierenden Charakter haben soll, dann fehlen Möglichkeiten der Kontaktaufnahme, denn Peer steht ja nicht leibhaftig am Zaun, zumindest habe ich da keine servicewillige Person dauerhaft stehen sehen. Und selbst wenn er da stehen würde, dann hätte er ja “Ich lutsche Schwänze” mit einem auf ihn weisenden Pfeil daran schreiben müssen, nicht Peer, denn welcher Peer nennt sich selbst schon Peer? Das ist doch unüblich. Ich gehe ja auch nicht ans Notebook und murmele “”Maximilian bloggt Texte”, das ist doch sprachlich abwegig. Egal. So belästigt mich dieser Satz jedenfalls täglich, das wollte ich nur sagen. es ist wirklich eine Zumutung. Immer wieder gucke ich da zwanghaft hin, immer wieder lese ich das.

Maximilian lutscht Texte, schreiben Sie das ruhig auf Bauzäune. Es beleidigt mich nicht.

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Sven schreibt kurz über Camping, inklusive eines netten Sinnspruchs. Das ist beim Schrebergarten übrigens ganz ähnlich, wenn auch etwas verdreht: sanitär gibt es noch deutlich weniger Komfort (Kompostklo, sehr speziell), aber eine Laube ist dann doch ein erheblicher Fortschritt im Vergleich zum Zelt. Möbel! Stehhöhe! Fenster und Türen! Dachpappe! Strom! Das ist alles sehr erstrebenswert. Aber man trägt – genau wie beim Camping – zum Wochenende massenhaft Zeug erst ins Auto, dann in die Laube, man sortiert alles stundenlang und wühlt sich dann hoffnungslos fest, man macht einen Kaffee wie die ollen Pfadfinder, wäscht den ganzen Krempel mit der Hand unter freiem Himmel ab und pustet sachte Ameisen von Tellern, man sitzt kurz im Garten herum – nur um dann alles wieder zusammenzusuchen und aus der Laube, ins Auto und dann wieder in die Wohnung zu schleppen, wo alles schon wieder neu sortiert wird. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft wir in den letzten Wochen “Oh, zieht ihr um?” gefragt worden sind, dabei fuhren wir jeweils nur mal kurz in den Garten. Mit ein wenig Zeug dabei. Es ist alles wahnsinnig umständlich und kompliziert, man ist im Grunde dauernd mit Räumen beschäftigt und vollführt Alltagshandlungen auf einem geradezu lächerlichen Komfortniveau wie von vorm Krieg, dazu murmelt man aber dauernd, wie erholsam das alles ist. Und das ist es dann auch wirklich.

Der Mensch ist seltsam. Definitiv.

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10 Kommentare

  1. Peer als Zigarettenmarke … stimmt. Gab’s da nicht eine Otto-Parodie drauf? „Teer Export“ oder so? Und wo wir so bei semikomischen Komikern sind, da fällt mir der einzige Peer ein, den ich kenne, also nicht persönlich, ist klar, aber. Peer Augustinski. Und dann überlege ich, ob der nicht auch schon lange über die Wupper ist, und war der nicht die deutsche Stimme von Robin Williams? Und der ist auch schon …

    Es ist immer noch für die Jahreszeit zu warm.

  2. Und niemand kennt mehr Peer Steinbrück? Wobei ich nicht annehme, daß der gemeint sein könnte.

  3. Bezüglich Peer (siehe letzter Text von mir): Ich habe gestern auf dem Weg zur Arbeit noch einmal genau nachgesehen, ob man nicht vielleicht einfach in das ee im Namen ein schnelles t einfügen könnte, um so quasi über Nacht einen völlig überraschenden Peter ins Spiel zu bringen und Peer zu entlasten, aber nein, das geht nicht. Das ee ist formschön und mustergültig schreibschriftverbunden wie in der Grundschule, da ist keine Lücke. Die nächste einfache Variante wäre natürlich, das z in Schwänze einfach weiß zu übermalen, dann würde Peer plötzlich Schwäne lutschen und alle Passanten hätten künftig sehr merkwürdige Bilder im Kopf. Das ist doch im Grunde ein attraktiver Gedanke, nicht wahr? Sie sehen, es lässt mich nicht los. ***Ich war routinemäßig beim Augenarzt, weil man ja hier und da Vorsorgetermine locker in den Kalender streuen soll. Da steht jetzt an der Rezeption so ein Foliending mit einer zerknickten Mitteilung darin, auf der steht, dass man die Datenschutzerklärung der Praxis gemäß DSGVO selbstverständlich jederzeit auf Verlangen einsehen könne. Natürlich macht das nie jemand, nicht einer, kein Schwein, niemand möchte das ernsthaft lesen, es ist barer Unsinn, Schwachsinn, dummes Zeug, Zeitverschwendung, Beschäftigungstherapie und byzantinisch verschwurbelter Quark, für den vermutlich auch noch jemand geschult wurde – wenn man nicht verdammt gut aufpasst, dann kriegt man Blutdruck wegen so etwas und braucht gleich den nächsten Arzttermin. ***Frollein Polly über Verpackungen und Papier und Plastik und alles. Apropos Plastik, ich habe bei der GLS ein paar Links zu Pilzen zusammengetragen, die passen gut dahinter. ***Hamburg Wasser fordert Verbot von Mikroplastik.***City-Defluencer. Zur Regulierung der Touristenmassen kann man sich doch eigentlich überall bezahlte Defluencer vorstellen – und dann relativiert man beruflich eben z.B. dauernd und auf allen Plattformen Florenz: “So doll ist es da auch nicht.” Weil der Rest der Gegend dort eben auch Besucherinnen braucht. Na, Hauptsache Arbeit, ich begrüße solche Entwicklungen. ***Ich empfinde es allmählich geradezu als brechreizerregend, mich mit solchen Themen überhaupt zu beschäftigen, aber es muss ja sein: Die Sache mit der Informationsfreiheit im Netz. Schauderhaft. ***Gestern stand unter dem Artikel von Jojo, dass das Spendengeld dafür an ihn geht. Er lässt vielen Dank ausrichten und ja, die eine Summe wird selbstverständlich wunschgemäß mit dem Bruder geteilt. Der Vorgang führte hier übrigens zu bemerkenswerten Szenen brüderlichen Friedens, das war auch einmal schön. Läuft.***Nessy über Parship. Faszinierende Kommentare darunter. Sehr faszinierende Kommentare. Und viele. Alter Falter. Ich bin ja so alt, ich habe diese Dating-Dinger nie benutzt, keines davon, nicht einmal aus Spaß. Aber wie die Oma der Herzdame einmal mit Blick auf die Jugendlichen im Heimatdorf sagte: “Das ist doch schön, dass die jungen Leute heute so etwas nutzen können.“ Sie hatte damals nach dem Krieg so gut wie keine Auswahl. Ich habe einmal eine ganz große Liebe kennengelernt, weil ein Bild von ihr in einem Printprodukt war, das können sich diese jungen Leute vielleicht schon nicht mehr vorstellen. Und ich bin dann einigermaßen kreativ geworden, um dieser Dame näher zu kommen. Was dann auch gelungen ist, ich habe mir aber auch nicht nur ein bisschen Mühe gegeben. In der Folge dieser Aktion lief mir später übrigens auch die Herzdame über den Weg, die dann eine noch größere Liebe wurde, na, und den Rest kennen Sie ja schon. Das war aber alles damals, als Print noch gewirkt hat, die Älteren erinnern sich, those were the days, my friend. Genug davon, hier passt heute ein anderes Lied. **************************************** Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen. Toll, Sie guter Mensch! ****************************************

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