Ich probiere also erstmalig einen Text ganz ohne den Gebrauch der Finger zu erstellen, ich benutze eine Diktiersoftware auf dem Handy. Das hat zur Folge, dass ich auch nicht am Schreibtisch sitze, denn dazu gibt es keinen Anlass. Im Grunde ist mein Schreibtisch auch nicht gerade die schönste Ecke der Wohnung und ich kann ja jetzt herumlaufen. Free Buddi! Ich stehe am Küchenfenster und sehe auf den Spielplatz, die Szenerie habe ich gestern allerdings bereits beschrieben, die lasse ich also weg, Eichhörnchen, Tauben, Bäume, das kennen wir schon. Ich müsste aber auch nicht am Küchenfenster stehen, ich müsste eigentlich nicht einmal in der Wohnung sein. Ich könnte mit dem Handy in der Hand irgendwo herumgehen, vielleicht sogar durch sogenannte interessante Gegenden. Ich könnte dabei das Wandelbloggen entwickeln und mit dem Format endlich reich und berühmt werden, so lauert eben an jeder Ecke eine neue Projekt-Versuchung.
Ich nutze, falls das jemanden interessiert, die Diktiersoftware Dragon Anywhere, es ist einigermaßen erstaunlich, wie gut das technisch funktioniert und nein, ich habe da keinen Werbedeal. Und erst einmal bin ich mir auch noch nicht sicher, ob ich das wirklich bin, der hier schreibt – oder irgendeine andere Instanz von mir. Der Vorgang des Schreibens per Diktat ist tatsächlich grundsätzlich anders, als wenn man mit der Hand schreibt, es fühlt sich an, als müsste ich alles neu lernen. Am Ende ist natürlich auch das nur eine Frage der Gewöhnung, werden sie sagen – ich bin mir nicht sicher. Es kommt mir zum Beispiel ein wenig so vor, als müsse ich per Diktat viel geistreicher als sonst sein, als müsse jeder Satz besser sitzen, jede Formulierung knackiger sein, weil es doch irgendwie sehr komisch ist, schlechte oder undurchdachte Sätze per Diktat laut durch die leere Wohnung oder sogar auf der Straße zu sprechen. Was natürlich Unsinn ist, ich sage hier ja keine Gedichte auf, ich halte auch keine Reden im großen Saal und in jedem beliebigen Gespräch gibt man doch sehr viele schwache Sätze von sich, dauernd, also ich jedenfalls. Ich könnte die seltsamen Sätze hinterher einfach korrigieren, wie beim normalen Schreiben mit den Händen, da schreibe ich ja auch mehr als genug schwache Sätze, wo ist denn das Problem? Ach, ich fremdele so herum.
Ich kopiere hier jetzt zwei bereits vorgeschriebenen Absätze in das Dokument, das ist quasi geschummelt, aber immer noch rühre ich keinen Finger dabei und werkele nur per Stimme am Text, das ist schon schick.
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Ich habe ein paar Seiten Fachliteratur gelesen, die mir unsere Steuerberaterin geschickt hat, darin ging es einerseits um die korrekte steuerliche Veranlagung von Honoraren, Trinkgeldern etc., die man mit Blogs, Instagram-Accounts, Podcasts und dem ganzen anderen Online-Zeug verdienen kann, andererseits auch um die Bewertung der sozusagen betrieblichen Ausgaben, die man für den Unterhalt dieser Medien und Accounts aufwendet. Ich möchte mich nicht allzu weit aus dem Fenster hängen, aber ich glaube, wir machen das bei Buddenbohm und Söhne stets bemüht halbwegs richtig, auch mal eine nette Erkenntnis. Aber wenn man das ganze schon so lange macht wie ich, dann ist es auch witzig, wie das, was für uns alle damals zunächst nur ein Online-Späßchen war, jetzt Eingang in steuerliche Fachliteratur findet und dort in ungeheuer komplexen Satzverschwurbelungen vorkommt, von denen man tendenziell Kopfschmerzen bekommt.
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Zwischendurch zur Aufheiterung “Alles ist relativ und anything goes” gelesen, sehr unterhaltsam, sehr kurzweilig, man lernt auch etwas.
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Außerdem “Die Ordnung der Zeit” gelesen, das war teilweise faszinierend, teilweise war es mir auch eindeutig zu hoch, die Geschichte meines Physikinteresses ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Zwischendurch kam es mir ein wenig so vor, als würden sich die Physiker dem Zeitverständnis der Erzähler annähern, die ja einen eher laxen Umgang mit zeitlichen Wahrheiten und Zeitebenen pflegen. Nicht einmal in diesem Blog ist “gestern” unbedingt gestern, wenn ich “gestern” schreibe, dann weil es gut klingt, nicht weil 24 Stunden vergangen sind. Gestern kann auch vorgestern oder letzte Woche gewesen sein, das ist für meine Texte nämlich in der Regel vollkommen unerheblich und das Konzept Wahrheit ist ohnehin ein wenig ding, wie Wolf Haas sagen würde.
Immerhin aber habe ich direkt nach dem Lesen einen dieser großartigen Träume gehabt, in denen man plötzlich alles ganz anders und viel tiefer versteht. Wovon man nach dem Aufwachen zwar nichts mehr hat, weil es dummerweise absolut nicht reproduzierbar und nicht einmal halbwegs beschreibbar ist, aber dennoch, das war kurz ein gutes Gefühl. Und kurz ein gutes Gefühl zu haben, das ist ja nicht nichts.
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Nach langer Pause wieder mit Isa im Kino gewesen und den leisen Verdacht gehabt, dass um mich herum bemerkenswert viele Deutschlehrerinnen und -lehrer saßen. Das machte den Film aber nicht schlechter, der war nämlich ein großer Spaß, den kann ich gerne und wärmstens empfehlen, den Dreigroschenfilm. Hier eine ausführliche Rezension in der SZ. Beim Reingehen debattierten zwei der deutschlehrerhaften Besucher bierernst die Frage, ob der Begriff Musical für den Film nun angebracht sei oder nicht. Ich denke, der olle Brecht hätte Spaß an dem Gespräch gehabt.
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Und jetzt teste ich also tatsächlich wie es ist, mit dem Handy herum zu laufen und dabei sozusagen live zu bloggen.
In
Diesem
Moment
Zum
Beispiel
Fahre
Ich
Fahrstuhl
Vier
Drei
Zwei
Eins
Erdgeschoss, Wirklichkeit und täglicher Bedarf, die Fahrt endet hier.
Vor dem Hamburger Hauptbahnhof, der liegt quasi ein paar Schritte vor meiner Haustür, steht eine Damenreisegruppe. Die Damen stehen im Kreis und eine schenkt gerade allen Eierlikör ein, sie haben Gläschen dabei. Jetzt trinken Sie gleichzeitig und lachen dann ein wenig befangen und gucken unsicher, da kommt noch keine rechte Stimmung auf, die eine schenkt gleich noch einmal nach, na komm, die ersten kichern schon, geht doch. Ob wir hier mittlerweile so sehr Szeneviertel geworden sind, dass man besser vorglüht, bevor man bei uns durch die Straßen geht?
Von links läuft einer durchs Bild, der trägt einen ganzen Karton voller Energydrinkdosen. Er sieht ein wenig so aus, als könne es ihm nicht schaden, wenn er ein, zwei der Dosen sofort konsumieren würde, der Herr ist nämlich eindeutig im Zeitlupenmodus und mit seiner Gesichtsfarbe stimmt auch etwas nicht, fifty shades of Übermüdung. Mehr passiert aber erst einmal nicht und mehr Bemerknisse sind nicht zu verzeichnen, auf diese Art beginnt das Wandelbloggen also mit Energie und Eierlikör, das halte ich doch sofort fest, was für ein Omen auch immer das sein mag. Energie und Eierlikör, es gibt auch schlechtere Einstiege. Morgen mehr!
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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.
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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, die Diktiersoftware möchte bitte nach Ablauf einer Testphase abonniert werden. Irgendwas ist immer.
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Interessant. Du klingst anders, wenn du diktierst. Ich würde denken, die beiden unteren Absätze waren vorgefertigt. Mehr Schachtelsätze, mehr Kommata, sowas mag eine Software nicht. 😀
Ich finde dich besser mit Tasten. Ist vielleicht aber auch Gewöhnungssache…
„Ich finde Dich besser mit Tasten“ – das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass das mal jemand zu mir sagt 🙂 (Schachtelsätze und Kommata sind aber tatsächlich gar kein Problem mit der Software)
Ich sehe auch diesen Wandel in der Textur zum Ende hin – und habe selber beim Tippen das Gefühl, die Worte flössen eher aus meinen Händen … aber vielleicht bin ich im Zuge dieses Posts Zeugin geworden, dass Metamorphose möglich ist … ?
Laut eines Arbeitskollegen gibt es in einem Philosophiestudium (keine Ahnung an welcher Uni) auch „flanieren“ als Unterricht. Nur, falls sie das mit dem wandelbloggen irgendwann mal in die wissenschaftliche Richtung lenken wollen sollten… ?
Was mich brennend interessieren würde: Merken Sie einen Unterschied zwischen der Verfertigung der Gedanken beim Schreiben und der Verfertigung der Gedanken beim Diktieren? Wenn ja: Herzlichen Dank für eine entsprechende Erhellung und… gute Besserung natürlich!
Ich kann mir vorstellen, dass das eine Umstellung ist, nur zu diktieren! Aber es ist auf jeden Fall eine alternative Möglichkeit, Gedanken zu Papier zu bringen. Naja, und auch ich bin weiterhin der Meinung, dass unser Innenminister zurück treten sollte!
Viele Grüße von Margit
Wandelbloggen – eine tolle Wortschöpfung. Vielleicht findet die ja mal Einlass in den Duden.
Ach, Herr Buddenbohm! Mit Dir wird die Welt immer ein Stück weiter!
@Creezy: Danke!
„Erdgeschoss, Wirklichkeit und täglicher Bedarf“ ist schon wieder so ein Romantitel.
Ich habe mit einer Dragon Software in den letzten Jahren viele Übersetzungen diktiert. Das klappte richtig gut. Am Anfang habe ich ungefähr 2 Wochen gebraucht, bis ich mich daran gewöhnt habe, den Satz stimmlich und nicht händisch zu formulieren. Aber nach einer Weile ging das flüssiger als Schreiben. Ich habe aber auch festgestellt, dass nach stundenlangem Diktieren, der Kopf sehr „ausgelaugt“ erschien. Ich glaube, die Konzentrationsarbeit ist beim Diktieren höher als beim Schreiben.
Free Buddi! 🙂
Ich bin ja der Meinung, dass du zum *Feuilletonist* berufen bist.
Irgendwann (es kann nur eine Frage der Zeit sein) müßte dich doch eine renommierte (dir genehme) Zeitung entdecken. Und fortan sollte dein Broterwerb nichts anderes sein, wie das, was du ohnehin bereits machst. Nur ohne die Unterbrechungen, zur Arbeit gehen zu müssen… Zum Wohle aller!
Und ansonsten: *wie immer gerne gelesen*!
@Micha: Ganz herzlichen Dank!
Wiedermal sehr sehr nett
Hab sofort Lust auf Eierlikör bekommen.
Energy Drinks mag ich ned aber die Kombi is trotzdem sehr cool. Tag erhellt und freundlicher und lustiger gemacht!
L g
Eigentlich habe ich nie offziell das Tippen mit zehn Fingern gelernt, komme aber gut zurecht. Bis zu dem Zeitpunkt, wenn ich einen englischen Text schreiben soll, dann bin ich aufgeschmissen: Ich spreche gut englisch, das ist nicht das Problem. Aber offenbar sind die meisten Worte in meinem Gehirn nicht als einzelne Buchstaben abgespeichert, sondern als Tippreihenfolge hinterlegt, die dann abgerufen wird. Und die englischen Worte sind anders im Gehirn abgelegt, weshalb ich sie nicht so flüssig tippen kann. Offenbar ist es bei Ihnen mit dem Werkzeug Tastatur nicht anders.
Sehr interessanter Artikel! Ich selber diktiere diesen Kommentar auch. So wie ich auch E-Mails, Notizen und Kurznachrichten nur noch einspreche.
Allerdings setze ich mich zum Bloggen immer hin und lasse meine Hände über die Tastatur fliegen. Die Worte kommen anders heraus, als gesprochen. Warum das so ist, weiß ich nicht. Aber diesen Unterschied gibt es definitiv.
Ach, und: das erste Mal, wenn man auf einen Anrufbeantworter mit „Komma“ und „Punkt“ spricht, möchte man eingehen vor Scham.