Vorfrühlingsgedanken

Es ist trotz der wieder etwas kühleren Tage, trotz des stark auffrischenden Windes und trotz des drohenden Regens etwas in der Luft, Sie merken es vermutlich auch. Der Frühling lässt sich nicht mehr leugnen, na gut, der frühe Vorfrühling zumindest nicht. Ich erzähle eine kleine Geschichte, die zur kommenden Jahreszeit passt, es geht um menschliche Triebstärke und menschliches Versagen, das ist ganz wie in der großen Literatur. Ich habe das vermutlich schon einmal erzählt, das macht aber nichts, ich erzähle es heute einfach anders. Ein Thema variieren, das ist auch wie in der großen Literatur, aber davon abgesehen – mir ist einfach gerade so, und das ist dann doch mehr so blogmäßig.

Vor unserem Haus liegt der Spielplatz, der ist auch ein Kirchhof, der war einmal ein Friedhof. Das ist ein Platz in handlicher Größe, nicht zu klein, nicht zu riesig, immer kann man auf einen Blick sehen, wer da alles gerade ist, wenn man ihn durch eines der drei Tore betritt. Denn das hat sich vielleicht durch die Zeiten gehalten, es gab und gibt ein Mäuerchen rund um den Platz und zwei, drei Pforten. Heute ist die Mauer rings um den Platz mannshoch, früher war sie wohl kleiner. Ich weiß das aber gar nicht genau, ich stelle mir das nur vor, so eine alte Kirchhofmauer eben, die kennt man doch von Bildern, von alten Gemälden. Heute ist es eine Mauer, über die man knapp nicht rübergucken kann, roter Backstein, wie es sich in Norddeutschland einmal überall gehörte. An einigen Stellen ist auch nur ein eiserner Zaun, aber der wächst im Frühling mit Kletterpflanzen und Bambus zu, der ist dann auch halbwegs blickdicht.

Am Abend kommen, sobald die Temperaturen und der Regen es auch nur halbwegs zulassen, Liebespaare zum Spielplatz, die kein Zuhause haben, keine erlaubte Zone oder einfach keine andere Gelegenheit. Immer sind es jugendliche Paare, Teenies oder Menschen mit knapp zwanzig Jahren, älter sind sie nie. Wenn man älter wird, dann lösen sich zwar nicht alle Probleme, aber einen Platz findet man dann in aller Regel doch irgendwo. Sie sitzen also da und warten, bis die Eltern mit den kleinen Kindern endlich weg sind, sie halten Händchen und küssen sich ab und zu, sie legen die Arme umeinander oder die Beine übereinander, sie sitzen dicht zusammen und reden leise. Wenn auch die letzten Eltern weg sind, küssen sie sich etwas mehr, und wenn es dämmert, küssen sie noch mehr und drücken sich in einer Art, dass man manchmal gleich und auch von Ferne sieht, da gibt es eine gewisse Not und Dringlichkeit.

Es sind nicht viele Paare, die da abends sitzen. Als würden sie sich untereinander absprechen, es ist sogar meistens nur ein Paar. Wie das wohl geht, dass da nicht jeden Abend zehn mal zwei junge Menschen sitzen? Na, am Ende ist die Anzahl der Bänke auch begrenzt. Und auf einer Bank fängt es immer alles an, auf so einer Spielplatzelternbank, die auf Dauer allerdings furchtbar unbequem sein muss. Da sehe ich manchmal Positionen, die schmerzen schon beim Zusehen, wenn sich da jemand wie hingegossen nach hinten biegt, weit über das Lehnenbrett hinaus, und der andere Mensch rückt dann so drängend und gierend nach.

Ich sehe das übrigens vom Küchenfenster oder vom Balkon aus, ich gucke von oben runter auf diesen Platz, der liegt unten vor mir wie eine Freilichtbühne. Und für die Balkone und Fenster links und recht neben mir gilt das auch, der Platz ist von drei Seiten von Häusern mit vielen Fenstern eingefasst, an der vierten Seite steht die Kirche und guckt weg.

Einmal war da ein Paar, bei dem war es noch dringender als bei den anderen. So dringend war es, irgendwann zogen die beiden kichernd und etwas zögerlich zum Kletterturm aus dicken Bohlen, der damals unten eine kleine Plattform hatte, über die sich dann die ganze Konstruktion mit Rutsche, Kletterseil, Strickleiter und allem erhob. Und auf diese kleine Plattform legten sie sich, legte er sie oder legte sie ihn, das war im Gemenge kaum zu unterscheiden. Der Platz reichte nur gerade für die Oberkörper, mehr war anatomisch gar nicht möglich, aber da lagen sie dann jedenfalls und die Hände, die bis dahin nur in den Haaren und an den Armen und Hälsen waren, sie waren jetzt so ziemlich überall und schnell waren sie auch, da musste nämlich in kurzer Zeit sehr viel gefühlt und gedrückt werden. Er machte ihre Hose auf, sie drehte gerade an seinen Knöpfen, da sprang er lieber doch noch einmal auf, sah sich hektisch um – ringsum Mauer, kein Mensch zu sehen, alles okay. An die Menschen über ihm dachte er keine Sekunde lang, an die Menschen in den Fenstern und auf den Balkonen dachte er nicht, an all die Menschen auf den Rängen sozusagen. Und wer wäre man, das lächerlich zu machen. Es ist vielmehr vollkommen verständlich und sehr gut nachvollziehbar, die Liebe geht vor, die Triebe gehen vor, wer weiß, man kann das so oder so sehen und manchmal eh nicht unterscheiden. Immer aber gilt doch wohl, dass man das kennt.

Die Hosen rutschten dann tatsächlich noch ein wenig hinunter, sie drückten sich aneinander und was da im weiteren Verlauf genau stattfand, das war nicht mehr zu erkennen. Wenn es das war, was vermutlich alle gedacht haben, dann ging es schnell wie bei Tauben und leise wie bei Meisen, da stand er schon wieder sichernd vor dem Klettergerüst und sah sich um, während sie die Jeans wieder schloss und sich den Sand aus den Haaren schüttelte, denn das Liebesnest war den ganzen Tag über intensiv von den Kleinen bespielt worden, mit backe, backe Kuchen und allem.

Die Menschen auf den Balkonen standen und guckten, einige rauchten und gingen dann wieder rein, als nichts mehr zu passieren schien, denn die beiden da unten saßen jetzt nur noch da herum und flüsterten in ihrer angenommenen Abgeschiedenheit, die immerhin seelisch hoffentlich eine echte war. Zweimal Schultern und Rücken von oben, lange und kurze Haare, die ineinander übergingen, und natürlich auch wieder die gehaltenen Hände.

So geht es den Menschen im Frühling manchmal, wenn etwas in der Luft ist, und so ging es ihnen immer schon, auch schon zu den Zeiten, als das da unten noch ein Kirchhof und ein Friedhof war, wir können das einfach annehmen. Auch damals schon sind da gelegentlich zwei abends über die Mauer und haben sich da so umgesehen und hektisch gekichert, mit geröteten Wangen und verwilderten Gedanken, man kann eigentlich sicher sein, dass es so war, es waren ja auch Menschen. “Nichts bleibt, mein Herz. Und alles ist von Dauer”, so heißt es bei Kästner, und es ist eine seiner allerschönsten Zeilen.

Das hölzerne Klettergerüst gibt es seit drei Jahren nicht mehr, es wurde ausgetauscht gegen eine moderne Variante aus Plastik und kaltem Metall. Die Plattform darunter ist jetzt noch viel kleiner und für gewisse Zwecke sicher völlig unbrauchbar. Vielleicht gehen die beiden von damals oder auch nur sie oder nur er da ab und zu vorbei und denken, dass sie da einmal … und sehen dann, es würde heute gar nicht mehr gehen. Aber mittlerweile sind sie auch schon älter, sie werden also längst andere Plätze gefunden haben und vielleicht auch andere Menschen. Nichts bleibt, mein Herz.

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Musik! Der Mensch an sich ist einsam.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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3 Kommentare

  1. Woher rührt es nur, Herr Buddenbohm, dass selbst ihren frühlingshaftesten Gedanken immer ein kleiner melancholischer Hauch innewohnt…

  2. Ich würde am liebsten zurufen: „Ihr armen jungen Dinger, kommt hoch und nehmt mein Sofa. Ich gehe derweil einkaufen.“ Wie immer wunderbar anschaulich, Danke.

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