Man wird ab einem gewissen Alter bekanntlich immer öfter von Erinnerungen angeweht, die jahrelang komplett verschüttet waren. Plötzlich auftauchende Bilder, die sind einfach da, manchmal ohne dass man auch nur ansatzweise einen Zusammenhang mit irgendwas erahnen könnte. Man geht beim Discounter an der Milch vorbei und weiß auf einmal wieder ganz genau, wie die Küche damals bei Oma aussah und welcher Topf da in welchem Schrank gestanden hat. Daran hat man immerhin über vierzig Jahre nicht gedacht, aber jetzt – zeichnen könnte man das, so irritierend genau ist das Bild und man fühlt auch wieder den Knopf der Schranktür in der Hand.
Aber auch ungenaue Bilder tauchen auf, vage Ahnungen von etwas. Die sind tendenziell unangenehmer, weil sie sich anfühlen, als sei an ihnen noch zu arbeiten, als sei da etwas zu ergründen und zu ergrübeln. Gestern überkam mich im Büro: Ich bin etwa dreizehn Jahre alt und ich lese ein Buch aus der Erwachsenenabteilung der Bücherei in Travemünde. Die es übrigens gar nicht mehr gibt, habe ich neulich gemerkt, das Gebäude ist verschwunden. Ich stand etwas betroffen vor dem Grundstück, denn es gehört sich ja nicht, die Erinnerungen anderer Leute einfach ungefragt abzureißen. Ich habe eine seltsam lebendige Erinnerung an die beiden Bibliothekarinnen dort, ganz genau sehe ich die vor mir, eine große und eine kleine Dame, manchmal habe ich die täglich gesehen, jahrelang. Bücherstapel raustragen, Bücherstapel reintragen. Auch die ganze Bücherei habe ich noch parat, die Anordnung der Sachgebiete und alles, ich könnte heute noch zeigen, wo bei den Romanen die Autorinnen mit S und wo die Drehständer mit Science-Fiction und Krimis stehen. Standen. Das Buch, das ich da in diesem Erinnerungsmoment lese, das ist jedenfalls nur so ein Versuch. Mit den Kinderbüchern bin ich irgendwie durch, jetzt doch mal was anderes, mal sehen, was die Großen eigentlich so lesen. Es sind Kurzgeschichten, sie sind von Gabriele Wohmann und auf dem Einband des Taschenbuchs ist irgendwas mit Lila. Ich lese eine Geschichte, die auch tatsächlich interessant ist, der Rest des Buches überfordert mich dann aber doch. Vermutlich geht es um Probleme in Ehen und Beziehungen, ich bin zu der Zeit allerdings noch mit Stofftieren und Fantasiegebilden liiert und kann nicht recht mitdenken.
Ich sitze also im Büro und sehe auf einmal vor mir und fühle auch, wie ich dieses Buch aufschlage, mehr nicht, es geht nicht weiter. Ein winziger Moment aus einem Sommer etwa 1979, ein Sekundenteil nur, kein Zusammenhang mit irgendwas fällt mir ein. Es ist auch weder schön noch schrecklich, es ist einfach nur. Ich gehe nach der Arbeit in die Hamburger Zentralbücherei und sehe mir den Regalmeter Wohmann an, die Dame war beeindruckend produktiv. Ich nehme einen Kurzgeschichtenband mit Lila auf dem Einband, “Ländliches Fest und andere Erzählungen”. Ich habe den Verdacht, wenn ich die ersten Zeilen der Geschichte von damals lese, dann fällt sie mir wieder ein, nein, das ist gar kein Verdacht, das ist nur eine wirre Hoffnung. Und natürlich kommt es auch nicht so, bei der ersten Geschichte klingelt rein gar nichts. Gut ist sie dennoch.
Ich überlege, was ich über Gabriele Wohmann weiß, das ist wenig bis nichts, ich googele ihr hinterher und guck an, Meisterin der deutschen Kurzgeschichte, eine ungeheure Anzahl davon hat sie geschrieben. Ich habe sie seit damals nie wieder gelesen, die war auch eher so Mütter-Literatur. Also zumindest in meiner Wahrnehmung, das muss nichts mit dem tatsächlichen Werk zu tun haben. Wirkt Wohmann nach, liest man die noch? Ich weiß es nicht.
Aber auch egal, ich kann mir ihre Bücher ja mal ansehen. Also zumindest die mit irgendwas in Lila auf dem Titelbild.
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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.
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Frühherbst in Badenweiler, sage ich nur. Luchterhand. In Darmstadt kam man um „die Wohmann“ nicht herum. Verstanden habe ich das alles nicht damals. Vielleicht müsste ich es nochmal lesen. Danke für die Erinnerungen an Ihre Stadtbibliothek, ich hatte hier dann die meinen – ich durfte auch mit 15 in die Erwachsenenbibliothek im ersten Stock, weil ich „unten“ schon alles ausgelesen hatte.
Bei Lila 1979 fällt mir allerdings Svende Merian ein. Der Tod des Märchenprinzen. Herrjeh.
Same here, nur in Detmold. Ende der Siebziger/Anfang der Achtziger in der Stadtbücherei (da bin ich heute genau einmal im Jahr; immer wenn ich in der Jury des Vorlesewettbewerbs sitze): Gabriele Wohmann, Wolfdietrich Schnurre, Christa Reinig. Für mich waren das lauter Geschichten aus einer fremden Welt, beunruhigend, spannend, auf jeden Fall weit jenseits meines Erfahrungshorizontes. Und Svende Merian, na klar! Beim „Tod des Märchenprinzen“ erinnere ich mich an ein Cover mit einem Graffiti an der Laden-Fassade: „Auch hier wohnt ein Frauenfeind“. #throwbacktuesday – Danke!
@Barbara: Gleich mal Christa Reinig googeln, den Namen kenne ich nicht.
@christjann:
“Herrjeh“, das habe ich ja auch gelesen, Svende Merians “Tod des Märchenprinzen“: was wurde damals gerätselt, ob es erstens tatsächlich um Henning Venske ging und zweitens, ob ein Buch in dieser Form zu rechtfertigen ist. Nun, die Meinungen gingen auseinander, eine kleinere Skandalgeschichte war es jedenfalls zu jener Zeit.
Ich habe bis heute nie wieder daran gedacht, nicht einmal bei Venskes kabarettistischen Jahresrückblicken, die ich bis zu seinem Rückzug im vergangenen Jahr stets besuchte.
Auch ich durfte früh in die Erwachsenenabteilung der öffentlichen Bücherhalle “Kohlhöfen“ in Hamburg, die leider später als erste den Sparplänen zum Opfer fiel. Dabei hätte sie in ihrer Multikulti- Umgebung auch heute noch eine wichtige Funktion.
@Trulla ich fand ja Venskes Antwort damals schon viel witziger als Svende Merians Roman, aber das hätte ich mich zu dieser Zeit nicht zu sagen getraut 🙂
Meine beiden „Bibeln“, die mich zum Weiterlesen gebracht haben, waren Ende der Siebziger „Die verbrannten Dichter“und „Frauen schreiben“ von Jürgen Serke. Darin auch Christa Reinig, wenn ich mich recht erinnere.
Dort, wo damals in Travemünde die Bibliothek stand, wird übrigens ein Hotel errichtet. Klar, ist ja auch wichtiger, davon gibt’s in dem Ort ja auch noch nicht genug.
„Ein netter Kerl“ oder „Flitterwochen“ oder „Schönes goldenes Haar“ haben es in die Schulbücher geschafft – Kurzprosa-Interpretation ist Wahlpflicht im Deutschabitur Baden-Württemberg.
Meine Stadtbücherei erlaubte mir irgendwann – auf Insistieren meiner Mutter hin – , mehr als die eigentlich erlaubten 5 Bücher auszuleihen. Das hätte manchmal nur 2 Tage gereicht und es waren immerhin 25 Minuten Fahrradfahrt, eine Strecke.
Und ja, alles abgespeichert. Einmal durch, Wendeltreppe hoch, durch den Kinderbuchbereich zum Saal (eigentlich eher Raum, aber als Kind…) mit den Jugendbüchern. In der Mitte war noch ein Regal mit Comics, die las ich immer gleich, weil ich sonst unnötig geschleppt hätte. Ich weiß auch noch , wo die die Schundbuchreihe mit dem Superpiraten (bester Kämpfer, schnellstes Schiff und natürlich bekommt er die schöne Gouverneurstochter) stand, bei der meine Mutter immer die Stirn runzelte. Die Biographie der Bee Gees, bei den Musikbüchern auf der Empore. Böll, Lenz und andere 47er. Stephen King, gefühlte Meter um Meter. Pausewang und Härtling. Ach, und all die leicht erkennbaren, orangefarbenen Beltz&Gelberg-Bücher.
In meinem Heimatort hat jemand das Gebäude der ehemaligen Stadtbücherei gekauft, es ist ein Denkmal wie so viele in dieser Stadt.
Jetzt stellt sich heraus, es ist gar nicht so einfach, ein Haus zu besitzen, an das sehr viele Menschen „Mitbesitzansprüche“ haben, weil sie hier ihre Kindheit verbracht haben.
Ja, die Comics habe ich auch oft gleich vor Ort gelesen. Eigentlich wollte ich sie mitnehmen, habe aber schonmal reingeguckt und mich dann „festgelesen“. Bin dann fast immer nur mit Büchern nach Hause gekommen…
Osnabrück – in den grossen Ferien in die Buchhandlung an der Johannisstrasse. Ich weiss nicht mehr wie sie hiess. Acker? Eine recht kleine Buchhandlung war das. Schon sehr lange geschlossen. Aber dieser Moment: ein Glöckchen klingelt beim Hereinkommen, in der Mitte ein riesiger Tisch, um den herum man nur einen schmalen Gang gelassen hat. Wie aufgebahrt in der Mitte, endlose Stapel mit Schulbüchern. Verschiedene Ausgaben, Arbeitshefte. Meine Mutter zieht einen Zettel aus der Handtasche und die Verkäuferin fängt an, die Bücher, die meine werden sollen, für das neue Schuljahr zusammenzusuchen. Es wird mehrfach geschaut, ob es die richtigen Nummern sind, am Ende gefragt, ob mit Umschlag oder ohne. Immer alle mit Umschlag sind sich die Verkäuferin und meine Mutter einig. Und ich kann den Moment nicht erwarten, den Stapel zuhause aus der Tüte zu nehmen. Um sie vorsichtig aufzuschlagen, ihren Geruch einzusaugen, um sie voller Stolz in Besitz zu nehmen. Das werden meine sein. Ein ganz neuer Anfang. Ganz neue Welten darin. So unberührt und schön.
Mein Kommentar wartet auf Modertaion. Wer ist Modertaion? Klingt nach einem bösen Fantasyhelden.