Das Wanderprojekt “Einmal um Schleswig-Holstein”, dieses betont langsame Projekt, es ist tatsächlich wieder etwas in Bewegung geraten. Es gab vor einiger Zeit ein kleines Zwischenspiel in Hamburg (der Text hieß “Krass mittel”), der korrekte Anschluss an den letzten Ostseeaufenthalt in Sierksdorf findet sich aber hier.
Es war natürlich Zufall, dass Sohn II und ich uns wieder einen der heißesten Tage des Jahres für die Wanderung ausgesucht haben, aber allmählich scheint es doch zu einem Muster zu werden. Wir stiegen morgens in Hamburg in den Zug, in einen reichlich überfüllten Zug voller Menschen mit dem Ziel Strand, es war an ihrem Gepäck eindeutig zu erkennen. Um uns herum saß eine große Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit Betreuerinnen und Eltern, das wird so etwas wie die Ferienfahrt eines Jugendzentrums gewesen sein. Es wurden mindestens drei Sprachen gesprochen und oft wurden Sätze in der einen Sprache in einer der beiden anderen beantwortet, das war ganz normal, so etwas finde ich immer faszinierend. Eine junge Frau lief mit einem großen Plastikeimer voller Klumpen von einer Art Schmalzgebäck durch die Gänge und bot allen etwas an, der Zug roch auf einmal nach Rummelbude und Volksfest. Das kleine Mädchen neben uns hatte einen großen aufblasbaren Schwimmring mit Vogelkopf auf dem Schoß, ein Tukan war das wohl, wenn ich es recht gedeutet habe, jedenfalls küsste das Mädchen die ganze Fahrt über die Figur immer wieder auf den Schnabel, das war ein sehr geliebter Schwimmring, der auch sehr fest gehalten wurde. Die daneben sitzenden Kinder guckten das Spielzeug eher skeptisch an, auch weil es viel Platz beanspruchte.
Sohn II und ich überlegten während der Fahrt, wie weit wir eigentlich wandern wollten und wie müde wir waren, denn es war am Abend vorher dummerweise etwas spät geworden und wir waren früh unterwegs. Selbstverständlich hatte der Sohn große Pläne, wie es sich für etwa Zehnjährige gehört, selbstverständlich rechnete ich mit etwas weniger Strecke, wie es sich für mein Alter gehört. Man wird mit den Jahren etwas konservativer, auch in den Schätzungen. Wir besprachen, wie müde wir genau waren, denn so einfach ist das ja gar nicht. Man steht dabei immer vor der Frage, wie weit man sich und seinen Zuständen eigentlich glaubt, auch das verändert sich im Laufe des Lebens und seiner Phasen erheblich. Wenn man nicht mehr kann, dann hat man noch ein Drittel seiner Kraft übrig, so heißt es im Sport und beim Militär, das ist das eine Extrem. Wenn man als Kind auch nur ansatzweise nicht mehr kann, dann geht man keinen einzigen Schritt mehr, das ist das andere Extrem, und irgendwo dazwischen muss man immer wieder seine eigene Wahrheit finden. Auf den Körper hören, Bedürfnisse erkennen und richtig bewerten, simpel ist das nicht, auch nicht für Erwachsene, die schon viele Meinungen dazu konsumiert und versucht haben.
Wir nahmen uns jedenfalls vor, am Vormittag dem ersten und am Nachmittag dem zweiten Extrem zuzuneigen, das passte auch gut zum Wetter, so dachten wir.
Die Jugendgruppe hatte einen Fahrradanhänger für den Kindertransport dabei, so ein riesiges Ding mit Deichselstange und Überbreite und recht großen Rädern. Beim Versuch, dieses Ungetüm irgendwie sinnig im Zug unterzubringen, konnten wir beobachten, wie mehr und mehr Menschen die Nerven verloren, Betreuerinnen, andere Fahrgäste, Kinder und Zugbegleitung, es kam zu Gebrüll und Gekeife, die Rede war mehrmals von dem “gottverdammten Ding”, wobei man zur Entschuldigung aller darauf hinweisen muss, dass die Deutsche Bahn in vielen Zügen bemerkenswert schlecht darauf eingerichtet ist, dass ihre Gäste eventuell Gepäck, Fahrräder oder Kinderwagen dabei haben, am besten fährt man nur mit einem kleinen Notizbuch oder einem Smartphone.
Jemand ging mit einer Checkliste herum und fragte, zu welchen Gruppen die Kindern gehörten, der Junge neben mir verstand die Frage nicht. “Na, wozu gehörst du, woher kommst du?” Und der Junge sagte ganz ernsthaft: “Aus Jugoslawien.” Es hat sich nicht aufgeklärt, wie ein Kind heute aus Jugoslawien kommen kann, vielleicht wurden die Gruppen da nach untergegangenen Ländern benannt, Jugoslawien, Trapezunt und Babylon oder so, wir werden es nicht erfahren. Der Mensch mit der Checkliste machte jedenfalls einen Haken und alles war in Ordnung, dabei müssen wir es belassen. Sohn II wollte wissen, was ich an Jugoslawien denn so seltsam fand, das war dann nicht so einfach zu erklären.
Im Gang stand ein telefonierender Mann, der wiederholt und deutlich sagte: “Mein Bruder existiert nicht.” Ich besprach wieder mit dem Sohn, wie viele angefangene Geschichten man überall hört und sieht.
Dann sahen wir aus dem Fenster. Es verbot sich, auf dem Handy zu spielen oder zu lesen, wir mussten Akku sparen. Wir hatten auch keine Bücher dabei, denn wir haben an jedem Gramm Gepäck gespart. So kamen wir einmal dazu, eine ganze Zugstrecke zu sehen, es war ein wenig wie früher, als alle beim Reisen aus dem Fenster gesehen haben. Als wir Hamburg vollständig hinter uns hatten, sagte der Sohn: “Jetzt kommen endlich diese Häuser aus alten roten Steinen”, er beobachtet nämlich genau. Wir sahen auf ein Bild, bei dem ich nicht anders kann als innerlich “gelb die Stohoppelfelder” zu singen, es war ein Augustanblick. Ein bereits abgeräumter Sommer mit staubigen Feldern unter knallblauem Himmel in noch voller und brütender Hitze, wir fuhren durch ein glühendes Schleswig-Holstein.
In Sierksdorf stiegen wir aus und dort folgte dann die erste Wanderetappe, die ich zweimal gegangen bin. Im letzten Jahr wanderte ich da bereits in erwachsener Begleitung, ich bin nie dazu gekommen, darüber zu schreiben. In diesem Jahr nun in Kinderbegleitung und auch noch etwas weiter. Und obwohl sich die beiden Begleiter im Alter um mehrere Jahrzehnte unterschieden, kamen wir doch zu ganz ähnlichen Beobachtungen und blieben wir staunend vor den gleichen Panoramen stehen.
Zu dieser sozusagen doppelt belichteten Etappe dann im nächsten Eintrag mehr.
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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.
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Schööön! (Sie sähen mich glücklich lächeln, könnten Sie mich sehen.)
Bin gespannt auf mehr – auch, weil ich vor ein paar Tagen beschlossen habe, dass ich dringend im Herbst ein paar Tage an der See verbringen muss. Es wird wohl Haffkrug, weil es von dort so schön in beide Richtungen geht, je nachdem, wie der Wind steht.