Anmerkung zur Stochastik

Sicher kennen Sie das Gefühl, bei der Wahl der Warteschlangen im Supermarkt stets falsch zu liegen. Immer steht man in der falschen, immer kommen andere besser weg, obwohl doch die Chancen so wirken, als müsste man sie halbwegs richtig überschlagen können, so als rational denkender Mensch. Und vielleicht sind Sie ja auch schon einmal auf die etwas bockig anmutende Variante gekommen und haben sich wochenlang einfach immer an Kasse 1 angestellt? Nur um dann festzustellen, dass es da eben nicht mal schneller und mal langsamer geht, wie es doch sein müsste, sondern dass es da tatsächlich immer besonders langsam geht, jedenfalls solange Sie an dieser Kasse stehen? Natürlich, ich werde da ja nicht der einzige Irre sein, der auf so etwas kommt (keine Kommentare bitte), man will doch immerhin wissen, wogegen man eigentlich kämpft, der allmächtige Zeitdruck und das spezielle Schicksal, meine Herren und Ihre.

Ich kann das jedenfalls noch ergänzen, denn ich habe gerade herausgefunden, dass man dieses Spiel selbst dann nicht gewinnen kann, wenn man das Verlieren zur Abwechslung einmal als Gewinn betrachtet. Klingt kompliziert, ist aber ganz einfach. Ich stehe im Edeka kurz vor der Kasse und sehe eine Eilmeldung auf meinem Handy. Ich lese die und komme von da aus, wie es so ist, auf einen anderen Text, der ist total interessant, den könnte ich vielleicht für die Links am Morgen verwenden. Wenn ich jetzt aber das Handy wegstecke, dann finde ich den vermutlich nie wieder. So etwas ist bei mir ziemlich gefährlich, ich muss unbedingt dranbleiben. Also wäre es eindeutig schlauer und zielführender, den Text sofort vollständig zu lesen und dann zu speichern. Daher entscheide ich mich für die viel längere Warteschlange, denn in der habe ich sicher genug Lesezeit. Denke ich mir so. Das aber gefällt einer Edeka-Mitarbeiterin nicht, ich habe nämlich so wenig Zeug im Einkaufswagen: “Gehen Sie doch rüber! Mit den paar Sachen! Da geht es doch viel schneller!” “Nein”, sage ich, “das macht gar nichts, ich habe ja Zeit.” Sie schüttelt den Kopf und sieht mich noch eine ganze Weile an, vermutlich um zu prüfen, ob ich auch noch auf andere Art verhaltensauffällig bin. Der Kunde vor mir hat den kurzen Dialog gehört, dreht sich zu mir um, guckt in meinen Wagen und entschuldigt sich sofort bei mir: “Das habe ich ja gar nicht gesehen, Sie können natürlich vor.” Und er macht einladende Gesten. Die Frau vor ihm guckt auch schon ganz interessiert. Wenn man übrigens mit Kishon aufgewachsen ist, dann freut sich an solchen Stellen immer der innere Ephraim, mit solchen Szenen hat der Meister immerhin einen Band nach dem anderen gefüllt.

“Danke”, sage ich, “ich stehe hier gut, alles bestens.” Die Frau vor der Frau vor dem Kunden vor mir beugt sich jetzt aus der Schlange und winkt mir engagiert zu, ich könnte auch einfach sofort! Und sie zeigt mehrfach auf die Kasse und auf mich, es sind wirklich alle ganz ungewöhnlich nett zu mir. Ich schüttele den Kopf. Ich möchte hier einfach nur stehen, warten und lesen, in einer Abwandlung des Loriotklassikers sozusagen. Aber wenn es so weitergeht, dann versuchen in absehbarer Zeit alle Personen im Kassenbereich immer drängender auf mich einzuwirken, nach so vielen Sozialkontakten ist mir gar nicht. Ich gebe also schließlich auf und verlasse den Laden in Rekordzeit, ich hätte mich auch nicht gewundert, wenn die Kassiererin mich einfach lässig durchgewunken hätte, ach, die paar Sachen nur, die gehen heute auf’s Haus, junger Mann.

Jetzt ist nur noch zu klären, ob man auch dann schneller aus dem Supermarkt kommt, wenn man es zwar tatsächlich eilig hat, aber das Desinteresse an der Geschwindigkeit geschickt vortäuscht, ob also die Wahrscheinlichkeit auf unser Verhalten reagiert oder auf unsere wahrheitsgemäße Situation. Über die Psychologie des “Als ob” gibt es immerhin ganze Bücher, die wirkt sich ja in erstaunlich vielen Bereichen aus. Spannend!

Der eine Sohn übrigens beginnt in der Homeschool gerade mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie passend. Im Lehrmaterial wird natürlich so getan, als könne man Wahrscheinlichkeiten exakt berechnen, wenn man nur genug Umstände weiß und korrekt beziffern kann. Haha! Und die Kinder glauben so etwas dann. Bis sie oft genug im Supermarkt waren. 

PS: Alle an dieser Szene beteiligten Personen haben übrigens vorbildlich Masken getragen, weswegen in Wahrheit alles dreimal oder noch öfter und auch in Großbuchstaben gesagt wurde, da man sich jetzt so schlecht versteht. “Schie können vor!” “Waf? “HOOOR!” Das ist aber eine andere Situationskomik, die passte nicht in den Text, da muss man heutzutage harte Entscheidungen treffen. 

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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5 Kommentare

  1. Ich erzähle jetzt nichts von Lesezeichen, von Screenshots, von Sich-selbst-Links-Zumailen. Wo kämen wir denn da auch hin? Dann gäbe es ja solche Texte wie den hier nicht. Und das wäre ver*** schade.
    Ephraim würde im
    Grab grinsen, hätte er dort Internet.

  2. Der innere Ephraim, über den freue ich mich gerade sehr. Wie passend, wie unzeitgemäß, wie voller Erinnerungen an die Schulzeit damals…

  3. In einem parallelen Universum hätte Frau Novemberregen mit ihrer Erfahrung an Supermarktkassen-Skurrilitäten eingegriffen und das Ganze hätte anderntags in der Lokalzeitung gestanden.

  4. Das Erlebnis erinnert mich sehr an meinen verehrten Spanisch-Lehrer und Freund Guillermo Aparicio, der solche Erlebnisse in einem Büchlein „Der Schlangenkunde“ festgehalten hat (erschienen im Schmetterling-Verlag 2004). Das Buch ist vermutlich nicht mehr erhältlich, daher betrachte ich das auch nicht als „Werbung“.
    Nichts für ungut.

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