Auf Schlingerkurs

Ich gehe mit Sohn II spazieren, wir gehen durch die Stadt. “Komm in den totgesagten Kaufhof und schau”, sage ich, aber George hat er noch nicht gehabt, und er hält seinen Vater nur wieder für etwas seltsam. Wir gehen in den Kaufhof und dort die Rolltreppe runter in die längst verkümmerte Schreibwarenabteilung, wohin auch sonst. Wir gehen an den Stiften und Heften und Ordnern vorbei, wie waren da in den letzten Jahren wirklich oft und auch lange, wir murmeln leise: “Also an uns lag es nicht.” Wir kaufen noch einmal Stifte. Die Verkäufer tragen in diesem Haus immer schon schwarze Kleidung, aber heute wirkt sie noch schwärzer und einer guckt so traurig, da will man eigentlich gar nicht mehr stören. Das Kaufhaus ist leer. Vielleicht ist es auch die ganzen letzten Woche so leer gewesen, Corona und die Folgen. 

Wir sehen uns noch einmal um, auch in den anderen Abteilungen, und der Sohn sagt: “Das ist hier ganz schön viel Zeug für sehr wenig Leute.” 

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Wir machen später am Tag den Kajak flott und umrunden die Billerhuder Insel, die Herzdame, Sohn II und ich. Sohn I ist anderweitig unterwegs, die Wege des jungen Herrn sind unerforschlich. Er ist in wenigen Wochen Teenager, das will natürlich auch vorbereitet sein und ist also schon in Ordnung. Sohn II ist in diesem Fall aber eh die besser Begleitung, der neigt nämlich immer wieder zum Extremsportlertum und wir Eltern müssen daher kaum rudern, er macht das schon. Es schlingert etwas und der Kurs ist beim besten Willen kein gerader, wir brauchen auch eine Weile, um uns beim Steuern zu einigen, es geht auf dem Wasser zu wie im richtigen Leben. Von den Rudern fällt immer wieder im Sonnenlicht aufleuchtendes Spritzwasser auf uns herab, das Wasser ist erstaunlich warm und fühlt sich hochsommerlich an. Es dauert nur zehn Minuten, dann fängt es an, das Aufdemwassergefühl, und der Tag wird anders. Diese andere Geschwindigkeit, dieses leichte Schaukeln, das Gleiten, das Funkeln auf dem Fluss, die vorbeiziehenden Gärten und Stege auf der einen Uferseite, es beruhigt alles ungemein. Jeder Garten ist anders, was man da alles ablesen kann, wie die Bewohnerinnen ticken. Wie verwunschen schön einige Stellen aussehen, wie grauenvoll hässlich andere, wie angeberisch das da, wie bescheiden lieblich das da, wir fahren langsam von guck mal hier zu guck mal da. Fahren, treiben und hinsehen, nur lässig rudern und ab und zu Anglern winken. Wirklich, ich kann ein wenig Entspannung nicht leugnen, ich sollte das vielleicht öfter machen. 

Auf der anderen Uferseite Hammerbrook mit Fabriken, Werkshallen und raumgreifenden Industrieklötzen. Da darf man nicht hochsehen, das deprimiert nur. Die grauen Betonbauten reichen bis ans Wasser, aber das hat auch einen Vorteil, denn das Ufer ist dadurch vollkommen unberührt. Da geht nie jemand längs, da liegt keiner in der Sonne, da grillt keiner, da schmeißt keiner Abfall hin, da feiert keiner, da legt auch keiner an. Da hängen nur die Zweige der Weiden ins Wasser und darin nisten, brüten und schwimmen Haubentaucher und Enten. Gänse patrouillieren würdevoll vor Küken und sonst ist da nichts, dieses Ufer ist untenrum schön, man darf nur den Blick bloß nicht heben. Man muss die Augen ein wenig eng machen, dann ist das eine Schmalfilmuferexpedition. Der Anblick ist zauberhaft und so ein Haubentaucher im Halbdunkel des schwimmenden Geästs ist allemal besser als gar kein Tierfilm. 

Immer wieder faszinierend, wie wenig man machen muss, um in seiner Stadt in einer ganz anderen Stadt zu sein. 

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Den Sonntag habe ich nahezu komplett verschlafen, ich brauche Urlaub. Ein Nickerchen nach dem anderen, nach dem Schläfchen ein Päuschen und dann noch einmal hinlegen und danach kurz mal die Augen zu, der ganze Tag war eine Serie von ausgedehnten Halbschlafmomenten – aber wach war er noch immer nicht.

Ich denke im Dämmer über die Weltlage und große Themen nach, über Ungerechtigkeiten und Skandale und Missstände, ich komme zu einem Schluss, für den ich eine Formulierung vom Herrn von Horváth umbauen muss: Eigentlich bin ich Extremist, ich komme nur nie dazu.

Die ersten Himbeeren, die ersten Kirschen, Zuckererbsen direkt aus dem Geranke. Zwei Kohlrabi. 

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Musik!


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Ein Kommentar

  1. Die Billerhuder Insel ist ein Paradies, ich war da mal Postbotin vertretungsweise vor sehr langer Zeit. Meine Touren dort waren immer Stunden länger als nötig, weil es so schön war und ich mich damals schon nicht sattsehen konnte. (Allerdings gab’s auch lauernde Doggen hinter Gartenzäunen und ein chaotisches Hausnummernsystem, kein Paradis für Briefträger.)

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