In Deutsch machen sie Balladen, er müsse demnächst auch eine auswendig lernen, sagt der Sohn. Meinen empörten Einwurf “Eine nur!“ ignoriert er routiniert. Belsazar also. Heine.
Ich sage, dass Balladen super seien, ich sage, ich habe mal mehrere gekonnt, auch ganz lange, auch die Bürgschaft und die Glocke, auch den Prometheus, den auch heute noch und dann fange ich damit an und er rollt die Augen. Belsazar dagegen – das sei doch eher kurz, sage ich, das könne man doch nebenbei lernen. Ich sage, ich lerne den Belsazar sicher viel schneller als du, ich bin ein Motivationsgenie. Der Sohn aber will jetzt bitte endlich an seinen Computer und hat außerdem erst im Januar wieder Schule. Ich lese Belsazar nach, ich laufe mich warm.
„Die Mitternacht zog näher schon“, das ist nämlich ein wunderbarer Anfang und ein gelungenes Bild ist es auch, wie da also die Stunde auf uns zuzieht, nicht etwa wir auf die Stunde. Wir sind der Fixpunkt, die Stunden kommen vorbei, andersherum hätte man es sich auch vorstellen können. Die Stunden ziehen bei Heine näher, wie die Feinde zur Grenze ziehen, wofür nimmt man das Wort sonst, was zieht wohin? Einst fünf wilde Schwäne, aber das ist ein anderes Gedicht, Disziplin bitte.
Man kann das nachfühlen, das mit den Stunden und der Bewegung. Wir können etwa jetzt schon fühlen, wie die Stunde des Jahreswechsels heranzieht. 2021 zieht näher schon, es kommt auf uns zu und es kommt, ich weiß nicht, ob Sie das auch fühlen, frontal, wir stehen gewissermaßen in der Brandung der Zeit. Wenn man es persönlich denkt, kommt es auf einen zu, wenn man es aber allgemein denkt, zieht es nur so unbestimmt durch die Gegend, das nächste Jahr. Aber es zieht jedenfalls, es ist ein sich bewegender Punkt in der Zeit.
Oder wenn man irgendwo sitzt und eine Uhr tickt an der Wand oder wo, das ist ja ganz egal, wo die ist, sie tickt aber in jedem Fall, denn dann fühlt man gleich intensiver, weil mehrere Sinne und so. Und die Zeiger kreisen langsam und baggern die Stunden also unerbittlich auf einen zu. Das Bild kommt schon auch hin, das ist auch bewegt. Das mit dem Ziehen ist aber deutlich lyrischer, keine Frage, mir ging es auch nur um die Bewegung, mir ging es darum, dass Zeit bei Heine Bewegung ist oder einer Bewegung folgt, dass sie nicht statisch aufgefasst wird wie in „Es ist zehn Minuten vor Mitternacht.“ Das sind so die Feinheiten. Wenn die Stunde zieht, wenn die Mitternacht zieht, dann erfolgt eine Bewegung durch die Luft, durch die Nacht, wie ein Vogel des Dunkels zieht die Stunde heran, schon das ist etwas unheimlich. Eine Stundeneule fliegt da, das klingt auch gut. Also bereits in dieser Zeile hat Heine lyrisch etliche Punkte abgeräumt, das muss man auch erst einmal hinbekommen.
Er macht dann allerdings mit einem nicht ganz astreinen Reim weiter, denn die Mitternacht zog näher schon – und in tiefer Ruh lag Babylon. Das reimt sich nur korrekt, wenn ich das „schon“ so ausspreche, wie es meine rheinische Verwandtschaft getan hat, also schonn. Schonn reimt sich auf Babylon, schon aber nicht. Babylon ist in meinem Sprachgebrauch nämlich Babylonn, also in der Aussprache. Oder sagen andere Menschen das anders? Andere Menschen machen ja überhaupt vieles anders, das ist immer wieder irritierend.
Ich habe schnell die Herzdame gefragt, es war gerade kein anderer Mensch greifbar. Die sagt auch Babylon, mit einem kurzen o.
Heine hätte, um einen korrekten Reim am Start zu haben, einfach eine andere Stadt nehmen müssen, etwa Iserlohn.
Die Mitternacht zog näher schon
In tiefer Ruh lag Iserlohn.
Hören Sie das? Das ist ein erstklassiger Reim. Allerdings, das sehe ich ein, fehlt dem Gedicht auf diese Art etwas Exotik. Außerdem läuft es zumindest bei mir assoziativ ins Leere, da ich über Iserlohn rein gar nichts weiß. Muss man über Iserlohn etwas wissen?
Die Mitternacht zog näher schon
In tiefer Ruh lag Iserlohn.
Und alle so: Na und? Who cares? Dagegen Babylon: Jetzt aber Obacht. Und dieses Gefühl, das braucht man in solchen Gedichten, und genau deswegen ist Heine also nach der ersten Zeile nach Süden abgebogen, das ist soweit nachvollziehbar. Was zwei Zeilen alles hergeben!
Was ich aber eigentlich nur andeuten wollte – Balladen sind wirklich super. Kann man immer wieder viel drüber nachdenken, es ist ein Fest.
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Wäre sehr toll, wenn der Sohn die Ballade lernen und Iserlohn einbauen würde statt Babylon. Das Gesicht des Lehrers möchte ich sehen.
Aus meinem Munde reimt sich schoon
ganz wunderbar auf Babyloon :-).
Die amtliche Aussprache von Babylon gibts natürlich bei Muslimgauze, erstes Stück hier am Ende: https://www.youtube.com/watch?v=oAmO46nsK8s
Babylonn? Echt jetzt?
Barbarisch 🙂
Ich finde es wunderschön, dass durch das Gedicht die Aussprache von Iserlohn fast automatisch richtig ist; die meisten Auswärtigen wollen nämlich standhaft _I_-serlohn sagen, also eher mit kräftigem „I“. Statt der korrkten Betonung auf dem „lohn“
Sie folgern jetzt alle sicher aus meinem Fachwissen, dass ich einen gewissen Bezug zu Iserlohn habe und das ist auch richtig: Es ist die Stadt in die wir fahren, wenn wir eine Stadt suchen und nicht gleich bis Dortmund wollen – aber nicht so weit fahren wollen. Da wo das nächstliegende richtige Kino ist und lange, mühevolle Jahre der Ort, wo der nächste McDonalds war. Als McDonalds noch wichtiger war. Ach ja, geboren bin ich da auch.
Heine war Rheinländer, oder? Das würde das „schonn“ erklären. Bei Goethe reimt es sich manchmal auch nur, wenn man Hessisch nuschelt „oh neische du Schmerzensreische…“ immer wieder gern genommenes Beispiel.
Ich liebe Balladen: „John Meynard“, „Füße im Feuer“ – nie vergessen!