Der Frühling wird uns eiskalt untergeschoben, fast an der Wahrnehmung vorbei. Hier und da sieht man im Vorbeihasten unter Schauern grüne Blättchen und fette Knospen, aber es graupelt, es schüttet, es stürmt, nirgendwo sieht man in Ruhe hin, alles nur nebenbei. Ein paar Narzissen auf vollgekackten Rasenstücken, frisch vom Platzregen verprügelt, taumelig auf den Stängeln. Krokuseinsprengsel im Park, verweht oder schon wieder zertreten.
Aber das Licht ist doch anders, die Helligkeit ist eine andere geworden, da sind jetzt Töne drin, die gibt es im Winter überhaupt nicht. So eine pastellige Ahnung. An den Kulissen wird also geschraubt, aber man bekommt es nicht recht mit. Man mag auch nicht rausgehen, es ist einfach nicht schön da.
Auf der Eiche vor dem Küchenfenster sitzt die Ringeltaube im quer herantreibenden Regen und gurrt, dass das Wetter früher besser gewesen sei, alles andere übrigens auch. Sie hat einen Ausdruck verstetigter Empörung um die Augen.
An der Fensterscheibe eines Restaurants hängt ein Zettel mit einem handgemalten Pfeil, über dem steht: „Hier bitte klingen“. Da hat man das zweite L vergessen, im „klingeln“. Ich stelle mir vor, wie die Kunden vor der Scheibe stehen und irgendwie klingen. Was man so macht, wenn man sich nicht mehr zu erheitern weiß. Es hilft heute nicht recht.
An einigen Geschäften steht jetzt etwas von neuen Öffnungszeiten und wie viele Kunden auf einmal, an einigen steht, dass man bitte einen Termin vereinbaren solle, dann große Telefonnummern. An einigen Geschäften steht gar nichts, die sind seit November einfach dunkel und still und das ist schon die ganze Geschichte, also von Kundenseite aus betrachtet. Es gibt Restaurants, die werben auf Zetteln in den Fenstern immer noch für den Grünkohl aus dem Dezember.
Aus einem Fenster höre ich Flötentöne, da übt jemand etwas. Es könnte etwas Irisches sein, keine ganz einfache Sache, das klingt jedenfalls nicht wie ein übendes Kind. Eine tanzbare Melodie ist das, jetzt noch eine Trommel und irgendwas mit Saiten und ab in den Irish Pub. Nein, das ist so ein Gedanke von früher. Die Flöte wird überlagert durch ein Martinshorn am Ende der Straße und das wieder geht unter im Klang der Kirchenglocken, gestapelte Töne, Großstadtmusik.
Ich gehe am Morgen Brötchen holen. Brötchen holen ist angenehm einfach und fast wie früher. Ich gehe durch den Bahnhof, der Zug nach Zürich fährt gerade ein, aber Zürich, das wissen wir längst, ist auch keine tiefere Stadt, da müssen wir nicht hin. Maskierte Menschen steigen aus und ein. Auf dem Bahnsteig stehen zwei, die ziehen die Masken runter und küssen sich sehr und nass und zum Abschied. Dann schmiegt sie sich an ihn und sieht, er ist erheblich größer als sie, selig lächelnd zu ihm hoch und sieht dabei dermaßen glücklich aus, das sieht man gar nicht jeden Tag. Dann steigt sie ein und er nicht.
Auf dem Weg zurück bricht die Sonne durch, ein jähes Aufgleißen der nassen Dächer, wie ein abgespritzter Modellbausatz stehen die Häuser blank, frisch und neuwertig da, ein Musterstadtteil mit kahlen Architektenbäumchen. Figürchen auf dem Gehweg, ich. Mit Brötchentüte.
Ich lese nach dem Frühstück Schulmails. Ich möchte bitte keine Schulmails mehr lesen, ich habe fürs ganze Leben genug Schulmails gelesen.
Wir müssten da noch etwas vorbereiten, wenn es hier nach den Ferien morgen wieder losgeht mit der Home-School, wir müssten auf diese Lernplattformen gucken und Termine sortieren. Wir müssten Konferenzen planen und Arbeiten und Tests. In mir ist ein lähmender innerer Widerstand, der ist noch größer als der bei den Kindern, und das will etwas heißen. Wenn das alles einmal Geschichte ist und in den verschiedenen Wissenschaften aufgearbeitet wird, ich hoffe es wird allgemein als einer der großen Fehler anerkannt, dass die Lehrpläne weiter durchgezogen wurden, dass der Druck blieb, dass die Arbeiten und Bewertungen blieben, dass Zensuren wichtiger waren als alles, dass es überhaupt immer um Noten ging. Ich halte das nach wie vor für eine absurde Fehlentscheidung. Ich verstehe die geschlossenen Schulen, sehr gut verstehe ich die, den Rest verstehe ich nicht. Den Rest will ich auch nicht verstehen.
Eventuell habe ich einen Ausdruck verstetigter Empörung um die Augen, das kann sein. Ich winke der Ringeltaube vor dem Küchenfenster solidarisch zu. Sie dreht sich unangenehm berührt um.
Im Mai gibt es wieder eine Woche Ferien. Komm, lieber Mai, und mache.
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Meine 5.Klässlerin geht morgen das erste Mal seit November IN die Schule (Ba-Wü), trifft das erste Mal wieder ihre LehrerInnen und andere Kinder … und schreibt als erstes (!) eine Englischarbeit. Es gibt nämlich nichts Wichtigeres als Noten lieber Herr Buddenbohm. Heute habe ich eine Schulmail geschrieben. Und ich mache das gar nicht mal so gern.
Mein Kind (auch BaWü) musste letzte Woche unbedingt zu einer Mathe-Klassenarbeit und auch nur dafür in die Schule. 7. Klasse….ansonsten bleibt es bis nach Ostern mindestens bei Fernunterricht und das ist auch gut so… Das mit den Schulmails verstehe ich vollkommen, ich will da auch nix mehr lesen, hören, denken müssen. Es ist zum heulen. Die einzige Abwechslung sind dann etwas wirre Mails von FreundInnen der Kinder, die versehentlich über Moodle ein „Huhu, wie geht es Dir?“ oder ein „Boah, Alter ist das langweilig“ schicken, das im Elternpostfach landen.
Herr Buddenbohm, falls Sie jemals auf die Idee kommen sollten, ein Buch schreiben zu wollen – ich stehe schon jetzt in der Schlange, um es zu kaufen.
Herzliche Grüße
Andrea
Andrea Stock: Herr Buddenbohm hat schon Bücher geschrieben.
https://www.amazon.de/Maximilian-Buddenbohm/e/B0045BIAEI%3Fref=dbs_a_mng_rwt_scns_share
„Verstetigt“ ist eine Bereicherung. Danke dafür!