Die Wände wurden in zwei Räumen neu gestrichen, es lief alles großartig, pünktlich und wie geplant. Ein gutes Gefühl, es wurde endlich etwas erreicht. Ich trage gefühlte zehntausend Gegenstände zurück in die Küche, wie viele Flaschen Balsamico kann der Mensch besitzen, habe ich einen Kaufzwang oder was. Alles ausmisten, alles durchsehen, alles wegwerfen. Das ist ohnehin befreiend, das sollte man öfter machen. Aber wenn man dafür immer erst die Wohnung renovieren muss, das geht auf die Dauer ins Geld. Schlimm.
Ich trage eine leere Obstschale durch die Gegend und habe auf einmal deutlich im Ohr, wie meine längst verstorbene rheinische Verwandtschaft die genannt hätte, nämlich Schälschen, mit einem für norddeutsche Ohren ungewohnt klarem Ä. Ich höre das genau, es ist fast ein wenig unheimlich, so deutlich höre ich das, eine weibliche Stimme im Raum, obwohl ich gar nicht beschwören könnte, dass die Vokabel wirklich richtig ist. Hätten sie tatsächlich Schälschen zu der Schale gesagt? Ich denke doch und zack, höre ich es noch einmal, sehe ich Wohnungen vor mir, Gesichter, einen Frühstückstisch im Sonnenschein, einen Südbalkon, Häuser mit Fachwerk und Schiefer an den Wänden, alles längst untergegangen. Nein, die Häuser gibt es noch, nehme ich an.
Ich wische ein Regal ab, ganz oben. Es sieht da aus, man macht sich keinen Begriff. Die Herzdame und ich sind eher klein, die Söhne sowieso, ab etwa 1,80 Meter findet diese Wohnung für uns gar nicht statt, das bildet sich entsprechend ab. Sieht ja keiner! Mir fällt meine ebenfalls längst verstorbene Großmutter aus Lübeck ein. Wie sie mich einmal in meiner ersten eigenen Wohnung besucht hat, die natürlich nur ein Zimmer war, und zwar ein WG-Zimmer im Zustand der fortgeschrittenen jugendlichen Verwahrlosung. Weil Punk und Jugend und was ist schon dabei, dazu Alkohol und mir doch egal und die Liebe, die Liebe, man hat so Phasen. Und meine Großmutter sah sich um. Sie sah diese vermutlich filmreif heruntergekommene und vergammelte Bruchbude, sie sah leere Flaschen, volle Aschenbecher, herumliegende Platten und Kleidungsstücke, vor Tagen abgefressene Nudelteller mit Ketchupspuren, und sie bemerkte freundlich, sie war immer freundlich, nach einem langen Blick durch das ungelüftete Elend, ich könne doch wohl hier und da mal mit einem feuchten Lappen drübergehen.
Was einem so einfällt, während man die Möbel abwischt. Mit dem Staub steigt die Familiengeschichte auf, wer braucht Madeleines dafür. Ein feuchter Lappen tut es auch. Er passt in meinem Fall auch viel besser, in meiner Kindheit wurden keine Madeleines gereicht.
Plötzlich Hunger auf Bienenstich. Das war noch Kuchen mit Substanz.
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Bienenstich! Guter Hamburger Bienenstich! Hier gibts ja sowas nicht, die Zonengrenze gilt für guten Blechkuchen weiterhin, Berlin ist da einfach mal kaputt.
@Slowtiger: Die großen Bäckereiketten haben den hier auch nicht mehr im Programm.
Schälchen und Staubkappen erinnern mich an Ferien bei meiner Omi. Zum Mittagessen gab es Kompott oder Pudding im Schälchen und wenn Opi schon satt war durfte ich zwei Schälchen leeressen. Und wenn meine Omi nach dem Mittagessen ihre Mittagsruhe hatte durfte ich mit dem Staublappen im Esszimmer die Möbel abstauben und die Küche und im Flur fegen. Das dauerte zirka 30 Minuten und danach haben wir etwas Westfernsehen geschaut.
Staubkappen ist aber auch ein hübsches Wort. Ich dachte beim Lesen an Gebäck. An eine Abwandlung der Madelaines, möglicherweise bestäubt mit Staubzucker. So was Trockenes gabs in meiner Kindheit. Das hieß dann Dauergebäck.
Schälchen sind hier kleine Schalen und kleine Schals.
Mit Kesche kann man Kirche, Kirschen und Käscher abdecken.
In diesem Dialekt braucht man weniger Worte und mehr Fantasie als anderswo.
Bei Ihnen lese ich sicher von an zu Anfang mit, bestimmt seit Januar 2005. 16 Jahre!