Eine ausgestoßene Figur ohne Hoffnung

Ich höre Kafka, Das Schloss, gelesen von Sven Regener. Ich denke viel über den Text nach, zum einen, weil er dazu ungemein einlädt, zum anderen, weil ich mich dauernd frage, was nun genau die besonders markante Stimme von Sven Regener dabei ausmacht. Ich höre das Hörbuch, als ich aus dem Haus gehe, als ich die Straße entlang gehe, als ich beim Theater vorbeigehe. Es läuft eine Leuchtschrift über der Tür dort, die zeigt an, was demnächst in diesem Theater kommt. Es kommt „Das Schloss“, von Franz Kafka. Ich finde das ein klein wenig unheimlich. Ich gehe durch die Stadt, ich höre weiter diesen Romanentwurf. Es geht gerade um die beiden Gehilfen des Landvermessers K., um zwei eher unnütze Gestalten, die er nicht als Gehilfen gewollt hat, die auch keine Hilfe sind, in keiner Beziehung. Die nicht auseinanderzuhalten sind, die vermutlich überhaupt nichts können und mit fortlaufendem Text plötzlich stark altern, bei denen man sich also auf gar nichts verlassen kann, nicht einmal auf ihr Alter. Alberne Figuren mit kindischen Zügen, so sind sie erst einmal gemeint, durch und durch unbrauchbar. Sie tollen über die Seiten.

Ich komme am nächsten Theater vorbei, auf den Stufen zum Haupteingang sitzen zwei junge Männer und sehen seltsam gleich aus, sie sind auch gleich angezogen. Sie hampeln herum, der eine zieht dem anderen die Kapuze über die Augen, sie lachen, sie grinsen mir zu. Albern sehen sie aus. Die Wirklichkeit ist heute wieder übergriffig, denke ich, weiß aber beim Weiterdenken nicht mehr genau, ob nicht doch eher die Literatur übergriffig ist und welche Dimensionen sich hier nun genau wie verschränken. Es ist vermutlich auch egal, aber wenn es mit den Wechselwirkungen so weitergeht, muss ich dringend andere Bücher konsumieren, heitere Familienromane vielleicht, und mit Krieg und Frieden fange ich jetzt doch noch nicht an.

Ich gehe nach Hause, ich muss arbeite, ich habe drei Texte zu schreiben, von wegen Wochenende. Ich tippe und tippe, ich drucke die Texte aus, ich lese sie noch einmal. Alles liest sich anders, wenn man es auf Papier vor sich hat. In allen drei Texten kommt Kafka vor. Das gefällt mir nicht, ich versuche, ihn wieder auszubauen. Es gelingt mir nicht, er taucht in anderen Absätzen einfach wieder auf. Ich gebe mich schließlich geschlagen.

Gucken Sie mal, ich zeige Ihnen noch eben eine Stelle aus dem Schloss (aus dem Schloß natürlich, aber die alte Schreibweise fällt allmählich doch schwer) es geht da gerade um die Beamten, die für den undurchsichtigen und unfassbar bürokratischen Apparat des Schlosses arbeiten. Beispielhaft wird einer von ihnen genauer beschrieben, der Herr Sordini ist es, in diesem Absatz geht es um seinen Arbeitsplatz:

: „… sein Zimmer ist mir so geschildert worden, dass alle Wände mit Säulen von großen, aufeinandergestapelten Aktenbündeln verdeckt sind, es sind dies nur Akten, die Sordini gerade in Arbeit hat, und da immerfort den Bündeln Akten entnommen und eingefügt werden und alles in großer Eile geschieht, stürzen diese Säulen immerfort zusammen, und gerade dieses fortwährende, kurz aufeinanderfolgende Krachen ist für Sordinis Arbeitszimmer bezeichnend geworden.“

Ist das nicht schön? Das fortwährende Krachen der zusammenstürzenden Säulen aus Aktenbündeln? Mir hat das gefallen.

Es gibt, ich habe auch das eher seltsam zufällig gefunden (wenn man übrigens das Wort kafkaesk einmal nachliest, dann findet man die schöne Information, dass es zunächst kafkisch hieß, wie großartig ist das denn), einen alten Film zum Buch, mit einem jungen Maximilian Schell, auch mit z.B. Helmut Qualtinger. Regie führte Rudolf Noelte, die Musik ist auch interessant. Den Film kann man komplett auf Youtube sehen, er ist un-fass-bar deprimierend. Er ist von geradezu erschlagender Ernsthaftigkeit und Ausweglosigkeit, wirklich fortgeschritten bedrückend. Maximilian Schell guckt tragisch, schwankt und scheitert an allem, eine ausgestoßene Figur ohne Hoffnung, es ist furchtbar. Wenn man davon eine halbe Stunde gesehen hat, ich möchte das empfehlen, kann man aber seinen eigenen Alltag immerhin wieder vergnügt zur Kenntnis nehmen, denn dagegen geht es einem doch noch gold, echtjetztmal, dagegen ist alles Ringelpiez. Hier geht es zum Film, hier ist der Wikipedia-Artikel zum Film.

Wenn Sie nur eine einzige Szene sehen wollen (es lohnt sich), springen sie zu 22:30, da beginnt Ks Besuch beim Gemeindevorsteher, er möchte dort seine Beauftragung klären. Sehr kafkisch, die Szene, keine Frage.

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Am Sonnabendmorgen frühstücke ich mit der Herzdame, während ein Sohn lange schläft und ein anderer gar nicht im Haus ist, wir sitzen also nur zu zweit und reden, dazu kommen wir ja sonst nicht. Zwischendurch steht sie plötzlich auf und besieht sich skeptisch das Frühstücksarrangement. Sie tritt ein paar Schritte zurück und blickt immer weiter nachdenklich so über alles hin – dann zieht sie den Tisch etwas nach vorne, schiebt auch ein wenig an den freien Stühlen herum, guckt sich dann wieder alles mit zusammengekniffenen Augen an. Es sei nicht alles perfekt symmetrisch gewesen, sagt sie schließlich, der Tisch habe nicht ganz ordnungsgemäß in Bezug zur Lampe gestanden, das Licht … und sie macht so eine wirbelnde Geste, die vermutlich Chaos, drohendes Tohuwabohu andeuten soll. Sie rückt den leeren Stuhl neben mir vorsichtig noch etwas weiter nach links, sie zieht auch noch einmal abschließend am Tisch, ich frage amüsiert, ob sie vielleicht auch mich noch etwas gerader rücken möchte? Sie schüttelt den Kopf und sagt ernst: „Das habe ich jetzt zwanzig Jahre lang versucht. Irgendwann gibt man auf.“

Verrückt, das kann ich daraus jetzt immerhin ableiten, verrückt bin ich also doch nicht.

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Die Durchseuchung der Kinder, das Alleinlassen der Lehrkräfte, Eltern und Familien, der Erzieherinnen und Erzieher, dazu die absurde Weigerung, Realität und Erkenntnis anzuerkennen, erschüttert mein Vertrauen in unsere Gesellschaft und unseren Staat in den Grundfesten. Das ist auf Jahre irreparabel.

Was, bitte, ist das für ein heilsamer Präsenzunterricht, in dem die halbe Klasse fehlt – und zugleich das Lehrpersonal? Was ist das für eine Schule, in der jedes Kind über kurz oder lang mit einem Virus infiziert wird, von dem wir nicht wissen, wie hoch das Risiko für Langzeitschäden ist? Was ist das für eine Wirtschaftspolitik, die durch Beharren auf Präsenzunterricht verhindern will, dass Eltern als Arbeitskräfte ausfallen, die durch dieses Beharren aber dafür sorgt, dass ihre Arbeitskraft erst recht wegbricht, weil die Eltern sich unweigerlich bei ihren Kindern anstecken, mit dem Risiko langfristiger Leistungseinbußen? Was ist das alles für ein seltsames Theaterstück, in dem wir mit aller Kraft Normalität spielen, während um uns herum Kollegen, Mitschüler, Nachbarinnen erkranken?

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