Das Wort des Winters

Donnerstag. Heftig weht der eiskalte Entblätterer, die Linden unten auf dem Kirchhof werden unsanft und ohne weiteren Verzug entkleidet. Ihr Laub treibt es ein letztes Mal gelb aufleuchtend himmelwärts, den Krähen, Tauben und Möwen hinterher, die sturmbeschleunigt schneller fliegen als sonst. Die Wetterfahne auf der Kirchturmspitze, ein goldener Sankt Georg, der den Drachen mit langer Lanze tötet, schlägt unruhig und schnell hin und her. Ost, Südost. Unten auf den Straßen und Wegen hastende Menschen im eisigen Regen. Kapuzen und Mützen, Schirme, Handschuhe, Schals und dickgepolsterte Outdoorjacken, volles Programm. Auf dem Wochenmarkt stehen die vielschichtig angezogenen Verkäuferinnen in den Böen und haben es schwerer als sonst. Der Hokkaidostapel vor dem Gemüsestand glänzt orange im Regen, man bekommt im Vorbeigehen Suppenhunger. Ich kaufe einen Stand weiter einen Käse, der Deichgraf heißt, das passt heute zum Wetter, will mir scheinen. Alles stimmig halten.

Eine linke Partei bietet per Plakat „Eintopf und Unterstützung“ an, das klingt ein wenig nach Weimar. Wenigstens gibt es ein paar Meter weiter keine plakatierten Gegenangebote aus brauner Richtung, da muss man schon dankbar sein. Uns geht’s ja noch gold. Ich schlage zuhause die Werkausgabe der Hermynia zur Mühlen auf, etwas Text zwischendurch, und lese zufällig die Geschichte vom Roten Heiland, es fügt sich heute.

Im Home-Office ist es zu frisch. Die Heizung läuft nicht recht, vermutlich weil Handwerker gestern im Keller irgendwas daran gemacht haben, das ist hier Tradition und dauert dann ungefähr sieben Tage, bis wieder alles normal und also gemütlich warm ist, das kennen wir. Ich arbeite mit zwei Pullovern, Überwurfdecke und Wärmflasche, die ein Sohn, der dieser Tage erst seine Vorliebe für die Dinger entdeckt hat, neuerdings „Wärmi“ nennt.

Der Begriff wird hier gerade zu einem verallgemeinerten Trostangebot im Familienjargon. Wenn einer missvergnügt auf dem Sofa sitzt oder verdächtig früh ins Bett geht und offensichtlich abbaut oder morgens gar nicht erst unter der Decke hervorkommen mag, kann man im Vorbeigehen mal eben „Wärmi?“ fragen, es ist manchmal tatsächlich hilfreich. Wärmi, das Wort dieses Winters. Und es wird nicht lange dauern, dann wird es sich magisch vom gemeinten Gegenstand ablösen und dann bald für Trost allgemein stehen, es wird dann heiße Schokolade, Tee, Hühnersuppe, free hugs oder etwas in der Art sein können, so geht die Sprachentwicklung.

Ja, genau so wird es kommen. Im Wärmiwinter 2022, manche Vorhersagen traue ich mir zu, auch als Schmalspurprophet.

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Der phänologische Kalender findet ansonsten auch auf dem Notebook statt, die Spam-Mails für die spanische Weihnachtslotterie nehmen stark zu. Ich klicke alles weg, ich mache Mastodon auf, ich lese „Friedrich Schiller folgt dir jetzt.“ Immer öfter die Kreise und Rückbezüge in meinen Texten, wie kommt das. Egal, jedenfalls Weimar schon wieder, siehe weiter oben. Ein wenig merkwürdig ist es doch.

Und, wo wir schon bei den ganz Alten und Großen sind, auf Twitter weist Julian Zündorf (er bloggt auch, hier) darauf hin, dass die Familie von Hardenberg, also die Angehörigen des Dichters, der als Novalis bekannt wurde, der mit der blauen Blume, sein Pseudonym auf der ersten Silbe betont haben. Nóvalis. Wie seltsam klingt das denn, bitte? Ich sage es im Laufe des Tages ein paarmal laut vor mich hin, es bleibt fremd. Novaalis.

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Übrigens, aber das ist nur eine Bemerkung am unteren Rande, ist es mir ein stetig größer werdendes Rätsel, wie ich Tag für Tag aufs Neue überhaupt nichts erlebe und es dennoch halbwegs zuverlässig einen Blogartikel füllt, den ich oft vor der Veröffentlichung noch deutlich kürze. What the hell am I doing here.

Na, es gibt so Tage.

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Ein Kommentar

  1. Novalis ist in meiner Heimatstadt begraben. Unscheinbar, im Stadtpark, der früher ein Friedhof war. Man meint, er musste so jung sterben, weil er seinen Freund, den alten und kranken Schiller pflegte. Richtig erwiesen ist das nicht. Trotzdem hängt alles mit allem zusammen. Novalis war es auch, der hier in der Region die ersten Braunkohleflöze fand, aus denen immer noch gefördert wird. Jedenfalls bis 2030(?) Ein Teil der ehemaligen Flöze sind jetzt Seen.

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