Zu den wenigen Highlights der letzten Tage zählte eine alte, eine vermutlich schon uralte Dame, die mich im Hamburger Hauptbahnhof ansprach, in dessen Tunnelgewirr sie ein wenig verloren herumstand und Schilder las, deren Sinn sich ihr nicht ausreichend erschloss. „Können Sie“, fragte sie und wartete dann einen Moment, bis ich mir die Kopfhörer heruntergerissen hatte, „können Sie mir bitte sagen, wo hier die Bahn zur Osterstraße fährt?“ Das wäre nicht weiter bemerkenswert gewesen, hätte sie nicht die Osterstraße auf die alte Hamburger Art ausgesprochen, mit spitzem S-T, Osters-traße, mit einer sprachlichen Besonderheit dieser Stadt also, die leider so gut wie ausges-torben ist. Ich habe sie sicherlich jahrelang nicht mehr gehört, finde sie aber sehr heimelig, sowohl in einem zeitlichen wie auch in einem örtlichen Sinn. In meiner Kindheit war es noch ein vertrauter Klang, siehe Helmut Schmidt oder andere ältere HamburgerInnen, die ich bei meinen regelmäßigen Besuchen in dieser Stadt gehört habe. Wir hatten Verwandtschaft in Hamburg. In Lübeck sprach man nicht so.
Ich habe auf meinen weiteren Wegen dann Schmidtdeutsch vor mich hingemurmelt, etwas von der S-taatsräson und von s-tändigen Vertretungen, ich habe noch am Schreibtisch zumindest im Geiste alles auf diese Art ausges-prochen und es war besser, deutlich besser als gar kein S-piel. Ansonsten aber auch nur ein weiterer Werktagnachmittag, farblos wie eine Gehwegplatte, S-tagnation und latente Unzufriedenheit, die nicht genauer benennbar war, ein fast ärgerliches Gefühl, bei dem ein weiteres Nachdenken aber vermutlich nicht lohnte, so dachte ich, das vermutlich mit „Januar“ bereits treffend genug benannt war.
Am Freitag dann wieder Home-Office unter dem Dachfenster, vor und auf dem ein Wetter mit ordentlich Percussion und Windgeheule stattfand. Ich wollte zwischendurch eine Playlist anmachen, startete aber versehentlich ein Hörbuch, als der Regen gerade mit Macht auf die Scheiben klatschte, wie aus den sprichwörtlichen Kübeln gekippt, und es lief der Anfang eines Stückes von Maupassant, Mademoiselle Fifi, darin wurde ausgerechnet der Regen in der Normandie beschrieben, wieder einer dieser Zufälle:
„Regen fiel in Strömen. Ein echt normannischer Regen. Wie wenn eine zürnende Hand ihn herabschüttete, ein Regen schräg von oben, wie ein Vorhang, wie eine Mauer aus Schraffur. Peitschender, klatschender Regen, der alles ersäufte, ein typischer Regen für das Gebiet um Rouen, den Nachttopf Frankreichs.“
Die „Mauer aus Schraffur“, die fand ich schön, in meinem Hamburger Regen, der an diesem Tag auch ein irischer Regen hätte sein können, meinetwegen auch ein normannischer, welcher Herkunft auch immer.
Ansonsten keine Bemerknisse.
Hier noch, ich bleibe musikalisch bei Sängerinnen aus schwarzweißer Vorzeit, Sarah Vaughan mit einer spektakulären Aufnahme von „Misty“. Ich mag besonders Ende und Anfang, wie sie zu Beginn aus dem Sprechen vollkommen zwanglos ins so beeindruckende Singen übergeht und zum Schluss aus dem Singen heraus ins Lachen, wie meisterhaft ist das denn.
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Ach, das spitze S-T 🙂
Mir bleib es in einigen Wörtern erhalten, die ich wahrscheinlich bei meiner hannoveranischen Großmutter und Urgroßmutter gelernt habe – Schorns-tein und ins-tabil (spannenderweise stabil mit dem sch-laut). Ich habe ansonsten keine Erklärung für diese S-T Einbrüche in einem ansonsten durchgehend ostwestfälischen Sprachbild.
Und irgendwie ist es auch schön.
Meine hamburgische Verwandtschaft legte immer großen Wert darauf, daß das Hamburger St und sp weicher zu sprechen sei als das hannöversche, also nicht mit breiten Lippen wie für ein e oder i, sondern mit gekräuselten und gespitzten Lippen wie für ein o oder u.
Und meine Großtante, Lehrerin, erzählte gelegentlich von dem jungen Kollegen, dem sie erst das richtige Sprechen beibringen mußte, damit die Schülerinnen (Mädchenschule!) im Diktat nicht auf der Schtraße über schpitze Schteine schtolperten.