Ich mache das Radio an, es läuft Sport, wie immer, die Welt besteht im Radio überhaupt nur aus Sport, man jagt Bällchen hinterher oder tollt im Kunstschnee herum. „Von der Physis her fühle ich mich anders“, sagt ein Teilnehmer bei irgendeinem Sportwettbewerb in ein Mikro, und das immerhin kann ich gut nachvollziehen. Ich fühle mich regelmäßig auch morgens und abends von der Physis her anders, wenn ich die Zustände und die Tageszeiten miteinander vergleiche. „Sehr treffend“, murmele ich anerkennend. Dem Sport und seinen Helden auch einmal Tribut zollen.
Ich höre „Die Frau von dreißig Jahren“ von Balzac. Das ist meiner Erinnerung nach ein eher schmales Taschenbuch, wenn man es aber hört, ist es auf einmal ein endloser Wälzer, und zwar ein oft eher wirrer (das Buch besteht aus etlichen Teilen, die Balzac etwas unsauber verleimt hat), was allerdings auch daran liegen kann, dass ich zwischendurch einschlafe, kurz wach werde und denke „Wieso jetzt Piraten?“, dann wieder wegdämmere. Später habe ich es noch einmal nachgelesen, Piraten kommen immerhin in der Geschichte wirklich vor, da war ich dann doch erleichtert. In den essayistischen und beschreibenden Teilen ist das Buch hervorragend, das sind allerdings die Kapitel, an die ich mich nicht einmal ansatzweise erinnern kann. Vermutlich habe ich sie als junger Mensch schlicht nicht verstanden oder sogar flott überblättert. Über weite Strecken ist der Roman das glatte Gegenteil der mittlerweile so unvermeidlich gültigen Regel „Show, don’t tell“. Heute mag ich das, diese langen Erörterungen, dieses Herumdenken. Das Ende des Romans kommt dann für mich auch eher überraschend, manchmal frage ich mich, ob ich beim Lesen früher überhaupt jemals aufgepasst habe. Er hat so viele Bücher gelesen – ja, aber was hat sein Hirn währenddessen gemacht?
Jetzt höre ich „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas (der Jüngere), gelesen von Sven Görtz. Der Roman, den es dann auch als enorm erfolgreiches Theaterstück gab, als Oper (La Traviata), als Film etc. Sarah Bernhardt spielte die weibliche Hauptrolle im Theater immer wieder und wurde zur Legende, ich wusste bis eben nicht, dass man sie auf Youtube sehen kann. Hier, aus einem anderen Stück, das ganz große Händeringen, das gibt es ja heute kaum noch:
Ich verbringe ansonsten am Nachmittag weit über eine Stunde beim Zahnarzt, danach fühle ich mich dann schon wieder von der Physis her anders und habe große Lust, das mit dem Händeringen zuhause nachzumachen. Aber so exaltiert bin ich nicht. Natürlich nicht.
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Von der Physis her anders. Oh ja, davon kann ich derzeit auch ein Liedchen singen. Sind wir jetzt in dieses Alter gekommen, wo wir uns unsere Zipperlein aufzählen?! Bewahre! Da wünsche ich dem gnädigen Herren lieber ein vergnügtes Wochenende. Und ziehe mich mit „The confession of Fitzwilliam Darcy“ (Mary Street) in meine Gemächer zurück. Ein Buch übrigens, das mich in höchstem Grade amüsiert, da ich gerade erst „Pride and Prejudice“ (Jane Austen) auslas. Beide kann man sich im Übrigen in der Internet-Bibliothek ausleihen: https://archive.org/details/confessionoffitz00stre und https://archive.org/details/jane-austen_pride-and-prejudice. Nur falls einer geneigten Leserin, einem geneigten Leser der Sinn danach stünde. Gehabt Euch wohl.
Aber ein schönes Bild wäre es schon, wenn Sie so händeringend durch das Dachgeschoss liefen. Und besonders schön wäre es, die Reaktion der Herzdame und der Söhne darauf sehen zu können. (Vielleicht ähnlich irrittiert und amüsiert wie auf Ihre Kerze zum Schreiben der Goethe-Kolumne?)
„Es ist leichter, das Buch zu behalten als das, was drinnen steht“ … weil ich ähnlich viel vergesse wie der Herr Buddenbohm, habe ich mir dieses Zitat in das Bücherregal geklebt und hoffe immer wieder, dass es mich zum Weitergeben der gelesenen Bücher animiert.
Dankeschön für den schönen Text!
Esthi