Vom Heraufbeschwören leerer Likörflaschen

Die Schwimmbäder werden wieder wärmer, lese ich am Morgen in den Nachrichten, die Wassertemperatur wird hochgeregelt. Vielleicht ist die Krise vorbei, vielleicht ist sie jetzt egal, vielleicht ist es etwas anderes, man kann auch nicht immer alles nachlesen. Doch, ich lese es nach, aha – die Temperaturen werden angehoben, weil man so viel gespart hat. Ich drehe die Heizung lieber noch nicht höher, ich verbleibe mit Fragen zur Logik und zum weiteren Verlauf, aber egal. Das tue ich ohnehin dauernd.

Wieder die Erinnerung an diese Szenen bei Charles Dickens, ich glaube, es war in Bleakhouse, in denen jemand Geld spart, in dem er etwas nicht kauft, nur um es dann umgehend für etwas anderes auszugeben, weil er die Summe doch gerade eben gewissermaßen erwirtschaftet hat.

Ich beschäftige mich ansonsten mit den fortgesetzten Tagebüchern von Manfed Krug: „Ich bin zu zart für diese Welt.“ Die Jahre 98 und 99 jetzt, es geht ihm nicht gut, er schwächelt erheblich und kann damit nicht umgehen. Ich staune, wie viele Namen bei ihm auftauchen, die mir zwischenzeitlich überraschend gründlich aus dem Gedächtnis gerutscht sind, weil sie seit vielen Jahren einfach überhaupt nicht mehr vorkamen. Jacques Chirac, Roman Herzog etwa. Ach ja, die gab es mal. Alexander Lebed, Suharto, solche Namen. Figuren aus den Achtzigern oder Siebzigern begegnen mir deutlich öfter wieder, so kommt es mir jedenfalls vor, sie kommen in meinem Alltag ab und zu vor, in Gesprächen etc., auch in Romanen. Wehner, Brandt, Strauß. Es ist alles etwas merkwürdig verteilt. Wie unfassbar ungenau die Erinnerung ist, was für ein seltsamer Filter. Dazu gehört aber auch, dass ich in den Jahren dieses Tagebuchs einfach nicht aufgepasst habe, weil ich sehr gründlich mit privaten Themen und Entwicklungen beschäftigt war und, wenn ich wenigstens das richtig erinnere, auch nicht oder kaum jemals ferngesehen habe. Man hat so Phasen, da reicht es nicht für die Wahrnehmung der weltpolitischen Lage.

Rührend jedenfalls, wie in Manfred Krugs Träumen immer wieder sein verstorbener Freund Jurek Becker auftaucht, wie die Gespräche mit ihm fortgesetzt werden, wobei der Umstand, dass der eine schon tot ist, gelegentlich nonchalant von einem der beiden erwähnt wird. Ich habe das noch nie erlebt, kein einziger verstorbener Mensch aus meinem Umfeld ist mir je im Traum erschienen, und ich ahne, ich werde das erste Mal, das ich vielleicht gerade heraufbeschwöre, so ist es mit dem Schreiben ja immer, entschieden unheimlich finden. Aber vermutlich ist es ohnehin unausweichlich.

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Am Straßenrand eine leergesoffene Flasche Berentzen Waldmeister, was ich deswegen bemerkenswert finde, weil ich gerade in der letzten Woche erst in einem Gespräch erwähnt habe, dass man so etwas ja nicht mehr trinkt, das ganze süße Zeug aus den Achtzigern – und prompt steht es da, es ist wirklich immer dieses Heraufbeschwören. Jemand trinkt sich da vielleicht ein paar Jahrzehnte zurück, stelle ich mir vor.

Darauf vielleicht am Abend irgendwas von Bols. Nein, das ist nur Spaß – schon die Vorstellung ist dermaßen gruselig. Oder Kirsberry, meine Güte, was fällt mir da alles wieder ein. Als wir unseren Garten übernommen haben, fanden wir in den Beeten die leeren Likörflaschen vergangener Sommerfeste, halbmetertief vergraben. Lauter Marken, die ich aus  meiner Jugend kannte.

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4 Kommentare

  1. Manfred Krug fand ich in Serien (Tatort, Liebling Kreuzberg) nur so lange cool, wie er noch keine Brille trug. Danach war er es irgendwie nicht mehr. Vielleicht lese ich seine Biografien auch mal, um das verstehen zu können.

    Und erst letzte Nacht hatte ich eine Begegnung mit einer vor zehn Jahren verstorbenen Frau, die ich nicht einmal persönlich kannte und die sich von mir verabschiedete.

  2. Ich bin auch in den Tagebüchern versunken und bin immer wieder hin und hergerissen zwischen Sympathie für den alternden, kranken, trauernden Mann und dann haut er wieder einen raus 😉 lieb‘s!

  3. Im ersten Band von Manfred Krugs Tagebüchern, den ich gern gelesen habe, berührte mich die tiefe Freundschaft zwischen ihm und Jurek Becker besonders. Neben seinem politischen und gesellschaftlichen Scharfblick beeindruckte mich auch die Ehrlichkeit und Zerknirschtheit bei der Schilderung seines Konfliktes, zwischen zwei Familienkonstrukten rücksichtsvoll sein zu wollen. Ich fand einen sensiblen Menschen von Charakter, der mir menschlich sehr sympathisch geworden ist.

    Auf den zweiten Band freue ich mich nun.

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