Weiterhin Dienstag, der 12. September. Gleich nach der Ankunft auf Helgoland (der Katamaran aus Hamburg legt jetzt vor den Hummerbuden an, nicht mehr im zumindest für Helgoländer Verhältnisse abgelegenen Südhafen, die Wege ins Ortszentrum des Unterlands sind dadurch viel kürzer geworden) bringen wir die Koffer aufs Zimmer mit Aussicht, sehen einen Augenblick hinaus und sind angemessen beeindruckt, denn das Licht, das Meer, die Wolken, der rotweiße Leuchtturm auf der Düne, wie Bilderbuch kann das alles denn sein. Es sieht ein wenig unwirklich aus, ausgedacht von Kulissenbauern für ein Stück mit maritimem Charakter. Und wie gut haben sie das hinbekommen.
Dann essen wir Fish and Chips an den blauen Hummerbuden. Für ein Imbissessen ist das hervorragend, es ist gar kein Vergleich zu dem, was ich etwa in Hamburg in der Innenstadt bekomme, es ist Klassen darüber. Die alarmierenden Warnungen des Imbissbudenpersonals vor den lauernden Möwen sind allerdings tatsächlich so eindringlich, und sie sehen dort so ernsthaft besorgt über die Schultern der Touristen in der Schlange vor ihnen immer wieder nach oben, dass man nach einer Weile geneigt ist, die Ermahnungen lieber ernst zu nehmen. Vermutlich werden sie da auch nicht ohne Grund jedem Gast einen Schirm ausleihen, um ihn beim Essen über sich halten zu können. Es wird gewisse Erfahrungswerte geben, und dann noch dieses Schild, „Deutschlands gefährlichste Fischbude“… Okay.
Die Gäste sehen daher etwas verunsichert immer wieder nach oben und behalten die Möwen, die im Moment eher vollkommen desinteressiert wirken und unverbindlich in das reichlich vorhandene Blau des Himmels starren, genau im Blick. Die essenden Menschen ziehen ihre Schultern hoch, schirmen die Pommes ab und gehen schon in Abwehrposition, wenn der eine Vogel auf dem Dach der Hummerbude da nur mal eben gelangweilt die Flügel weit ausstreckt, wie um sich sportlich zu dehnen, denn man weiß ja nicht, man weiß ja nicht, und hast du gesehen, wie die Möwe dahinten die Frau im Flug gerade angerempelt hat? Ist man schon einmal von einer Möwe angerempelt worden, wo gibt es denn so etwas bitte. Die Warnungen gehen in Wellen von Gruppe zu Gruppe und von Tisch zu Tisch.
Neulich übrigens bin ich im Garten von einer verwirrten Libelle angerempelt worden, und auch das ist schon ein erstaunlich spürbares Vorkommnis. Man rechnet nicht damit, dass man ein Insekt so überdeutlich fühlt, aber eine Libelle hat in vollem Flug schon etwas Kawumm. Na, sagen wir, sie hat immerhin ein Kawümmchen. Es war jedenfalls ein befremdliches Gefühl und ich denke, ein Zaunkönig etwa hat kaum mehr Einschlag, wenn er einen im Fehlflug am Arm treffen würde. Aber das nur am Rande.
Es wird also auf die Möwen gezeigt und es wird erzählt, das hat auf der Insel auch eine schöne Tradition, wie literarisch interessierte Menschen sofort parat haben. Viele wissen Geschichten von anderen Orten und anderen Möwen, in Rostock damals! Weißt du noch! Auf Usedom! Da könnten wir uns sogar anschließen, da hat eine Möwe Sohn II einmal in den Finger gebissen, oder war es doch der andere Sohn. Ich habe längst die Phase erreicht, in der ich die Erinnerungen aus der Kleinkindzeit nicht mehr korrekt zuordnen kann. Oder auf Sylt im letzten Sommer, auf Amrum!
Aber welche Möwenart das nun eigentlich ist, da auf dem Dach der Bude, dieser riesige Vogel da, ob Silber, Lach, Sturm, Mantel, Hering oder was, das weiß kein Mensch, buchstäblich kein Mensch, und es ist im Moment auch keine rettende Biolehrerin oder ein Vogelfreak, wie sie auf Helgoland sehr häufig vorkommen, in Sicht. Jemand sieht auf dem Handy nach, vergleicht Fotos und Wirklichkeit und sagt dann kopfschüttelnd: „Ich weiß nicht, ich sehe das nicht.“
Dann wieder vom Fischbrötchen abbeißen und kauen und sofort noch einmal vorsichtig hochsehen. Man könnte hier mit dem Handy die ganze Zeit Clips aufnehmen, die gewisse Hitchcock-Vibes hätten. Diese ängstlich besorgten Blicke nach oben, die in kalter Berechnung herabsehenden Vögel. Großes Kino gleich in der ersten Stunde auf der Insel.
Und sollte das alles nur inszeniert sein, um das Erlebnis zu verbessern, was ich allerdings nicht im Ernst annehme, es wäre ein ungeheuer gelungener Marketing-Spaß und mir sehr sympathisch.
Nur Minuten später weiß ich allerdings – nein, es ist wirklich kein Spaß und eine Möwe, die im Sturzflug und mit gnadenlosem Killerblick auf einen zukommt, sie ist am Ende doch besser als gar kein Abenteuer. Man ist geneigt, ihnen das Essen freiwillig zu geben, es ist ein wenig wie bei bewaffneten Raubüberfällen in der Großstadt.
Wir gehen unter den kalten, ernsten Blicken der Möwen weiter. Sie haben einen verbittert humorlosen Gesichtsausdruck wie Sam, der blaue Adler aus der Muppetshow damals, allerdings nehme ich an, sie sind nicht so konservativ wie er. Sie sind wohl eher bei den Piraten zu verorten.
Wir gehen durchs Mittelland aufs Oberland und dort die übliche weite Runde zu den Trottellummen und Basstölpeln. Dazu demnächst mehr.
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herrliche beschreibung, dankeschön dafür!
und dann auch noch so schöne wörter wie Kawumm!
und „Deutschlands gefährlichste Fischbude“ – köstlich 😉
aljoscha
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Wir haben so einen Möwenangriff mal beobachten dürfen. Sehr sehenswert und schnell. Uffpassen heißt es da.
Was das Kawumm von Kollisionen mit Insekten betrifft: mir ist diesen Sommer eine grössere Heuschrecke auf die Brust gesprungen. Das ist natürlich auch noch im Kawümmchen-Bereich. Aber nichtsdestotrotz, Heuschrecken haben auch schon ordentlich Masse. Man sollte die Insekten nicht unterschätzen.
Aber es war eine Möwe, die mir mal mein Eis gestohlen hatte! Um da dann wieder anzuschließen.