Die eigene Geschichte

Mittwoch. Ein Office-Office-Tag. Der innere Bartleby ist stark in mir, ich möchte lieber nicht, aber die protestantische Arbeitsethik ist es auch, versteht sich, die mir übrigens ohne jeden religiösen Aspekt von der Familie erfolgreich mitgegeben wurde. Tatsächlich kann ich mich an niemanden mit kirchlicher Bindung erinnern, nicht einmal in der Großelterngeneration, aber vielleicht habe ich es auch nur nicht mitbekommen oder gewürdigt.

Was übrigens eines dieser Themen ist, bei denen man mit zunehmendem Alter immer noch mehr Erkenntnis gewinnt – wie wenig man doch mitbekommen hat als Kind, was man alles nicht verstanden und korrekt eingeordnet hat. Weil wichtige Informationen fehlten oder historische Zusammenhänge, weil man zu Relativierungen aller Art als Kind nicht in der Lage war, weil man zu mitmenschlichem Verständnis damals noch nicht geneigt war. In jedem weiteren Lebensjahr fällt einem noch etwas und dann noch etwas auf, das die eigene Geschichte anders wirken lässt, oder es geht zumindest mir so. Wie sich die Bilder der Eltern und der anderen Verwandten über die Jahrzehnte immer noch weiter verfeinern, wie man hier noch ein Detail und da noch eines ergänzt und alles auch endlich geschichtlich einordnet – es ist doch ein weiter Weg von den Affekten, Ängsten und Träumen der Kindheit zu einem eher sortierten, familienromanähnlichen Konstellationsbild, das man einigermaßen reflektiert betrachten und neu lesen kann, mit Ruhe, Gelassenheit und klareren Gedanken. Womöglich auch mit den eigenen Kindern im Hintergrund, bei denen sich gewiss manches wiederholen wird, wie man dann mit einem schon altväterlich wirkenden Nicken bei den ersten Anzeichen registriert.

Familienromanidee: Erst einmal Obiges abbilden, wie da jemand also sein Familienbild allmählich revidiert, vielleicht anlassbedingt, etwa nach einer Beerdigung, so etwas wird doch gerne als Aufhänger genommen. Ein paar Gespräche, ein paar gefundene, nachgelassene Briefe oder Tagebücher, die man auch immer nett zitieren kann, so etwas. Einige Konstellationen, welche die Hauptfigur ihr ganzes Leben lang für entscheidend gehalten hat, die er oder sie stets als Grundvoraussetzungen der seelischen Verfasstheit verstanden hat, sie verschieben sich dabei, erst nur in Andeutungen, dann mit zunehmender Deutlichkeit und Geschwindigkeit.

Auf einer anderen Erzählebene, die man trickreich und literaturpreisverdächtig in die Handlung ziehen müsste, wird den Leserinnen allerdings im letzten Viertel des Buches ein Verdacht Seite um Seite immer plausibler: Dieses neue Bild der Familie, welches die Hauptfigur im Rückblick erkennt, farbig ausmalt und neu betrachtet, dieses neue Bild, das sie so angenehm versöhnlich stimmt und ihr über viele Kapitel zu deutlich mehr Gelassenheit verhilft, zu einem friedlicheren Selbstverständnis auch – es ist ebenso falsch wie das alte Bild. Es sind nur variierte Fehlinterpretationen, diesmal der gutmütigen Art.

Und der Roman endet dann damit, dass die Leserinnen, die nun schlauer sind als die erzählende Instanz, ohne dass sie recht wissen, wie das eigentlich zuging, zumindest kurz über die schicksalhaften Verflechtungen in ihrer eigenen Familie, über ihre eigene Geschichte nachdenken und dann zusammenfassend denken: Ach, weiß der Geier.

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Im Tagesbild Hammerbrook, das hatten wir schon lange nicht mehr.

Blick über ein Fleet in Hammerbrook in morgendlichem Licht

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7 Kommentare

  1. Tja.
    Der innere Bartleby gegen das, was Kathrin Passig so schön als Der innere Zwingli beschrieben hat…
    Death Match oder Musical?

  2. Das Bedauern, nicht genug zu wissen, nicht rechtzeitig gefragt zu haben, wächst mit steigenden Lebensalter. Ich kenne das und bedaure es zutiefst. Man war zu Zeiten, als es möglich war, zu sehr mit der eigenen Lebensgestaltung beschäftigt.

    Dabei böten schon die Fragmente des Wissens und die subjektiven Erinnerungen interessantes Material, doch daraus ließe sich allenfalls ein unvollständiges Bild fertigen.

    Aus väterlicher Familie sind wir nur noch 3 nachgebliebene Kusinen, ich bin die Jüngste davon mit meinen 78 Jahren. Wir treffen uns bewusst ein/zweimal pro Jahr und haben beschlossen, unsere sehr unterschiedlichen Beurteilungen der Vergangenheit und der handelnden Personen auf sich beruhen zu lassen, weil eine Aufarbeitung der Geschichte von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre.

    Ganz einig sind wir uns darin, dass unsere Elternteile, die in ihrer Kindheit (und wieder im Alter) als Geschwister sehr eng waren, sich über unsere heutige Verbindung freuen würden.

  3. Ja. (Ich überlege noch, wem ich diesen Auftragsroman übergeben würde.)
    Erst kürzlich fiel mir ein, dass ich als Kind bei Onkeln und Tanten oft nicht einmal wusste, wer davon blutsverwandt, wer angeheiratet war. Spielte ja auch keine Rolle, weder für Sympathie noch für Einfluss.

  4. zu wenig gefragt hatte ich auch, aber zum glück konnte ich meine mutter überreden, ihre kriegserlebnisse als flakhelferin aufzuschreiben. ihre reise ging zu fuß durch deutschland mit zwei jungen frauen(18- 19 jahre) und einem 17-jährigen belgier, von februar bis juni 1945. die reise begann auf föhr über sylt nach porta westfalica, von dort zurück über duisburg, köln und aachen in die eifel.

  5. Ich bin ungefähr so alt wie Maximilian. Als man hätte fragen können war man zu jung und wusste zu wenig. Die Eltern wollten zudem nicht reden. Jetzt leben sie beide schon lange nicht mehr.
    Immer wenn ich etwas über das Heim- oder Kinderverschickungssystem der frühen Jahre der Bundesrepublik Deutschland lese, bekomme ich das kalte Grausen und kann mir einiges versuchen zu erklären. Beide Elternteile waren davon betroffen.
    Sie haben beide keine Gewalt weitergegeben, dafür bin ich sehr dankbar.
    Wissen was wirklich war, werden wir nie mehr.

  6. @Andreas: das Elend der Heimerziehung und Kinderverschickungen im Nachkriegsdeutschland (in Ost und West) wird ja derzeit auch literarisch durchaus thematisiert und man erfährt Dinge, die einen frösteln lassen.

    Mein Bruder, 1940 geboren, ist Ende der 40er Jahre, aus gesundheitlichen Gründen in einem „Erholungs“heim für Kinder gewesen. Meine Eltern hatten mit ihm einen bestimmten, harmlosen Satz vereinbart, den er auf die Postkarte schreiben sollte, wenn er es dort – egal warum – nicht aushalten könnte. Sie dachten bei dem sensiblen Kind wohl eher an zu schweres Heimweh. Nun, er schrieb den Satz und noch am selben Tag setzte sich unser guter Vater auf das Motorrad und holte ihn ab. Ohne Widerspruch der Anstaltsleitung! Mein Bruder hatte miterlebt, dass ein Bettnässer nachts in den Keller musste, um sein Laken zu waschen und bis zum Trocknen daneben ausharren musste. Das reichte ihm.

    Wie müssen Kinder gelitten haben, deren Eltern nicht zu Hilfe kommen könnten.
    Und das waren alles Kinder, die schon schlimme Kriegserlebnisse hinter sich hatten!

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