Ich bin bei der Kafka-Biografie kurz vor dem Ende des mittleren Bandes angekommen, die Beziehung zu Felice Bauer eskaliert schlimmstmöglich vor sich hin. Es ist kaum mitanzusehen, mit jeder Seite wird es übler. Und dabei ist diese Biografie von Reiner Stach so gekonnt und elegant geschrieben, dass man das alles deutlich vor sich zu sehen meint. Vielleicht sieht man es allzu deutlich, der Autor nimmt einen gekonnt mit.
Das ist manchmal denkbar unangenehm, und zwischendurch denke ich, dass das vielleicht alles falsch ist. Ein Leben so aufzudröseln, eine Psyche so zu zerlegen, Briefe zu veröffentlichen und zu analysieren, Tagebücher auszuwerten, Notizen, Zeugenaussagen, Textfetzen. All diese Lebensspuren interpretierend zu lesen und dabei zu bewerten. Es ist im Grunde, man kann auf diese Sichtweise testweise einschwenken, eher unangenehm. Was macht man da eigentlich, worin wühlt man da.
Wenn man sich nur kurz vorstellt, lediglich zu Illustrationszwecken, das eigene Leben wäre irgendwann solchen Deutungen und Nacharbeiten unterworfen, mit dem jahrelangen Studium von sämtlichen Chatverläufen und Postings etc.: Was für ein Gedanke. Wobei dann unter den gelehrten und mühsam erarbeiteten Schlussfolgerungen selbstverständlich auch mehrere Fehldeutungen wären, denn wie könnte es anders sein? Als ob mich andere verstehen würden! Und wie gravierend könnten die vor allem sein, diese Fehldeutungen. Denn es stand immerhin gar nicht alles irgendwo, vielleicht das Entscheidende gerade nicht – das ist doch furchtbar. Ein überaus gruseliger Gedanke ist das, wenn man ihn etwas ausspinnt. Und es hilft nichts, dass man dann nicht mehr dabei wäre, bei der Zergliederung nach dem Ableben, es ist dennoch auf eine gewisse Art … creepy.
Lieber nicht derart berühmt werden, dass solche Ausdeutungen irgendwann von Interesse für die Allgemeinheit sein können. Das ist vielleicht als Regel daraus abzuleiten, und das ist immerhin recht einfach zu befolgen. Denke ich so. Aber nach einer Weile lese ich dann doch wieder mit Interesse in dieser großartigen Biografie weiter. Es geht hin und her in mir und ich weiß nicht recht, was ich final von der Sache zu halten habe. Aber gut, das gilt oft, wenn nicht sogar immer.
Die Verlobung von Franz und Felice wird dann endlich gelöst, und man möchte „Gott sei Dank“ murmeln beim Lesen oder es an den Rand schreiben. Obwohl man den Ausgang der Story längst kennt und überhaupt nichts überraschend kommen kann. Aber das macht gutes Erzählen aus, dass man es dennoch denkt.
Dabei fällt mir ein – ich hatte im letzten Jahr, als ich den Briefwechsel Bachmann – Frisch las, den unangenehmen Eindruck, dass es dieses Buch nicht geben dürfte, dass diese Veröffentlichung entschieden zu weit ging. Und ich habe erst später Rezensionen von kompetenteren Menschen gelesen, die diese Position ebenfalls vehement vertraten und dafür auch gute Gründe anführten.
Es ist kompliziert, glaube ich.
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Gelesen: Einen Artikel im Guardian über Menschen, die sich malen lassen. Es geht in dem Text nicht um prominente Menschen wie den englischen König. Drei interessante Bildbeispiele werden gezeigt, und man kann einmal drüber nachdenken, wofür man sich selbst entscheiden würde, in welchem Stil man sich sehen möchte.
„With selfies available to anyone with a smartphone and professional photography affordable and accessible, the desire for a painted portrait speaks to the pull of tradition and its unique process – the artist’s interpretation of the subject that often reveals more than just a likeness.“
Das ist dann, im Gegensatz zur biografischen Arbeit, eine Ausdeutung schon zu Lebzeiten. Und man kann das Ergebnis, wenn es einem nicht gefällt, dezent verschwinden lassen.
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Ich war und bin eine große Verehrerin von Tucholsky und habe damals alles (soweit man das bei seinem Werk sagen kann) von ihm verschlungen; den Briefwechsel mit Mary („Unser ungelebtes Leben“), von mir begierig erwartet, habe ich abgebrochen, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, es ginge mich überhaupt nichts an, was die beiden sich voller Sehnsucht und Kummer schrieben und doch nicht zusammenleben konnten. Ich habe ihn nie wieder aufgeschlagen.
ich mache nie selfies, habe aber ein ziemlich großes gemaltes bild von mir, das ein befreundeter künstler unbedingt malen und mir schenken wollte. dafür stillsitzen zu müssen und seine arbeit daran zu beobachten war für mich spannend. irgendwie fühlte ich mich anders wahrgenommen, ohne darüber zu sprechen. das besondere ist auch, dass ich mich körperlich eher unattraktiv finde, dieses bild aber facetten von mir zeigt(hinter mir bücherregal und sonne) die mir gefallen. privaten schriftverkehr mag ich auch nicht mehr lesen, es hat nichts mit dem werk zu tun, dessen interpretation wir selbst finden sollten.
Etwas abseitige Assoziation ausgehend von dem Gedanken zu Biografie / Interpretation eines vollendeten Lebens: Die zu Lebzeiten entstehenden Diagnosen von Medizinern, Therapeuten etc., zeichnen in der Summe („Patientenakte“) dann eine Art Golem, der niemals diesen Menschen in seiner Vielschichtigkeit abbildet. Klar, hat auch nicht den Anspruch, aber wer darf diese Daten alle einsehen – der „Patient“ ja irgendwie doch nicht ohne Hürden –, und deuten? Zu welchem Zweck? Creepy auch das…