Vielleicht eine gute Stunde

Die verbleibende Anzahl der Tage bis zu meinem Urlaub finden wir heute ausdrücklich benannt in der Offenbarung, Kapitel 2, 10: „… und ihr werdet Drangsal haben zehn Tage lang.“

Drangsal ist überhaupt ein bemerkenswert schönes Wort, fällt mir dabei auf, das auch mal wieder verwenden. Bonuspunkte, wenn man es im Büro unterbringen kann.

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Der Pride-Month ist bereits durch, wenn ich richtig orientiert bin, aber ich habe noch ein Bild aus den letzten Tagen parat, das ich eben nachreichen und beschreiben will.

Vom Balkon aus sehe ich auf den Spielplatz hinunter, der gerade ziemlich leer ist. Es ist eine Wochenendnachmittagsstunde und das Wetter ist durchwachsen, wenn man es nett ausdrücken möchte. Schauer ziehen wieder durch, es droht auch erneut ein Gewitter und am Himmel sieht man sowohl das kräftige Kornblumensommerblau des Julianfangs als auch die ganzjährig auftretenden schwarzgrauen Wolkenhügel. Es durchmischt sich, es wird minütlich neu entschieden, was über uns den Moment gewinnt.

Wenn man da hochsieht, geht man hinterher nur mit Schirm oder Regenjacke raus, so viel steht fest. Wenn man da hochsieht, geht man vielleicht auch lieber nicht raus, denn schon wieder nass werden – ja, ist gut jetzt, wie Herr Drosten damals sagte. Man ist in diesem Sommer schon genug nass geworden.

Auf dem Spielplatz ist nichts los, nur in der Mitte steht eine einzelne Mutter. Sie hält einen großen, etwas überdimensioniert wirkenden Regenschirm, mindestens Grandhotelportiergröße, über sich und ihr Kleinkind. Das krabbelt zu ihren Füßen herum und wühlt mit beiden Händen im regennassen Sand. Lachend, wenn ich es richtig erkenne. Der Schirm der Mutter ist regenbogenfarbig bunt gestreift.

Man kann nun nicht wissen, ob dieser Schirm vielleicht in einem queeren Pride-Kontext zu sehen ist. Man kann es nur vermuten. Vielleicht gibt es Regenbogenschirme und ihre Benutzerinnen auch ohne diesen Kontext, das mag sein. In unserem Stadtteil aber, der zumindest bis vor kurzer Zeit eine große, lebendige schwule Szene mit vielen Kneipen, Clubs etc. hatte, überall die Regenbogenaufkleber in den Fenstern und die Fahnen an den Balkonen, ist es eher unwahrscheinlich, dass man den Schirm ohne diesen Kontext spazierenträgt.

Aber unmöglich ist es auch nicht.

Diese bunte schwule Szene übrigens fällt in den letzten Jahren auch mehr und mehr dem Tourismus und den immer weiter steigenden Mietpreisen zum Opfer und dünnt daher zusehends aus. Ein Club nach dem anderen muss weichen, die Szene ist fast schon ein Reiseführerrelikt und längst nicht mehr so lebendig, wie sie in den Büchern noch beschrieben wird.

Zurück zum fast leeren Spielplatz. Da ich von oben auf die Mutter mit dem Schirm hinuntersehe, kann ich von ihr kaum etwas erkennen. Nur den Rand ihres blauen Kleides sehe ich manchmal, die Schuhe. Daneben das Kind auf allen Vieren. Der Regenbogenschirm dreht sich, kreist und wippt. Wenn man an den Bewegungen eines Schirmes die Stimmung der Trägerin erkennen kann, was meist eher zweifelhaft sein wird, dann wirkt diese schirmtragende Figur dort unten an der Sandkiste in diesem Moment munter, lebhaft und vergnügt.

Vielleicht ist es eine gute Stunde mit einem bestens gelaunten Kind auf einem leeren Spielplatz. Es gibt so etwas. Ich erinnere mich sogar, auch wenn es bei mir lange her ist.

Es regnet gerade nicht, aber das hat diese Mutter – wobei es gar nicht die Mutter des Kindes sein muss, sehen Sie, man leitet dauernd nur von Wahrscheinlichkeiten ab und behauptet dann so herum – wohl nicht bemerkt. Sie schließt ihren Regenschirm nicht. Oder sie hat es doch bemerkt und hat den Schirm aber gerne über sich, mag sein. Vielleicht ist es ein besonders schönes Licht, unter diesem so farbigen Schirm, das kann man sich leicht vorstellen. Die Sonne kommt wieder durch, alles leuchtet auf, im Laub der Bäume glitzern die Tropfen.

Jedenfalls bleibt er aufgespannt, dieser bunte Schirm, und dadurch sieht die Frau etwas nicht.

Über ihr spannt sich nämlich noch etwas. Ein prächtiger Regenbogen steht jetzt in der Originalversion am Himmel. Das Naturphänomen, bekannt aus Bilderbüchern, Märchen und Naturdokus. Der Topf voll Gold am Ende des Bogens wird diesmal in der Nähe der Elbe zu finden sein, bzw. am anderen Ende auf der Uhlenhorst, nahe der Alster, im Nachbarstadtteil. Welches Ende ist eigentlich richtig?

So schön wie diesmal sieht man einen Regenbogen nicht oft bei uns. Er ist mustergültig und besonders effektvoll in der Erscheinung, vor dem schon wieder dunkler werdenden Himmel. Der Mittelpunkt des Regenbogens oben liegt in etwa über dem Regenbogenschirm auf dem Spielplatz unten. Wie unfassbar passend Momente ausgestaltet werden können. Ein Foto davon würde man vermutlich zunächst für ein KI-Werk halten, so gestellt, unwahrscheinlich und hingetrickst sieht das aus.

Aber egal. Auch wenn es noch so unecht anmutet – ich wollte Ihnen das Bild doch kurz gezeigt haben. Ich wollte es dem Pride-Month noch eben hinterhergeschrieben haben.

Es geht mitunter bunt zu, da draußen.

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Ein Kommentar

  1. Die „Drangsal“ lässt sich noch steigern (5. Strophe des Kirchenliedes „Wer nur den lieben Gott lässt walten – inklusive alter Rechtschreibung aus wikipedia kopiert):

    „Denk nicht in deiner Drangsalshitze
    Daß du von Gott verlassen seyst
    Und daß Gott der im Schoße sitze
    Der sich mit stetem Glükke speist.
    Die Folgezeit verändert viel
    Und setzet Jeglichem sein Ziel.“

    Einen großen, regenbogenbunten Regenschirm hatten wir übrigens auch mal, einfach so, weil er mir gefiel.

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