Die große Gnade einer Wolke

Wo ich im letzten Text gerade beim Thema Kommunikation war, es ereignet sich im Urlaub in Südtirol noch etwas Erstaunliches: Ein Sohn schreibt Postkarten. Von sich aus, und sogar innerhalb seiner Altersgruppe. Es wird noch eine weitere Generation in dieses Phänomen und vermutlich auch in die altbekannte Erwartungshaltung der Zuhausegebliebenen involviert, das hätte ich nicht gedacht.

Vermutlich wird es auf den postpandemisch stark geschrumpften Büroflächen der Zukunft immer noch irgendwo eine Pinnwand mit vergilbten Karten geben. Strandansichten, Berghüttenbilder und berühmte Gebäude aus fremden Millionenstädten. Gesendet mit lieben Grüßen von Kolleginnen, deren Namen niemand entziffern kann. Aber stets getreulich angesteckt, hat mal jemand eine Stecknadel, die XY hat aus Paris geschrieben, guck mal.

Ich erkläre dem Sohn, wie man in der Fremde zu Briefmarken kommt. Ich zeige ihm auch, wo diese auf die Karten geklebt werden, was alles in die Adresse muss und dergleichen. Man weiß so etwas nicht von Natur aus, wenn man es noch nie gemacht hat. Danach gehen wir einen Briefkasten suchen.

Eine Spaziergangsmotivation wie aus dem Geschichtsbuch ist das. Man geht mit einem anderen Blick als sonst durch den Ort und sucht die Hauswände ab. Wo mag so etwas sein und wie sehen die Dinger in Italien eigentlich aus. Sind sie gelb wie bei uns oder rot oder was sonst. Nie haben wir bisher darauf geachtet. Die Herzdame und ich schreiben im Urlaub keine Postkarten. Längst nicht mehr.

Ein Torbogen in Kaltern

Die Hauswände, die wir dann in der Altstadt auf der Suche sichten, sind erstaunlich schön. Der ganze Ort ist schöner, als wir dachten. Kaltern am See hatten wir auf unseren Reisen bisher nur auf Durchfahrten gestreift. Am Ortsrand einmal zum Einkaufen gehalten, das Freibad besucht, so etwas.

Übrigens keine bezahlte Werbung für Urlaub in Südtirol, nein.

Wir gehen zum ersten Mal überall im Städtchen herum und finden Faszinierendes und Altes. Wir sehen Verfallendes, das auf diese ansprechende Art zerbröckelt, die bei der Bachmann in den Briefen an Frisch einmal als „in Würde verarmt“ beschrieben wurde. Wunderbare Altstadthäuser, die mit nonchalanter Lässigkeit vor die Hunde gehen. Apartes Flickwerk an Gemäuern aus früheren Jahrhunderten. Uralte Torbalken, figürlich ausgestaltete Türklopfer, unbeachtet an Eingängen, die seit langer Zeit nicht mehr benutzt wurden. Längst blinde Fester im Gemäuer daneben und dergleichen.

Fassaden in Kaltern

Einleitungsdekoration für Geschichten aus alter Zeit ist so etwas, das kann man sich gut vorstellen. Daneben toprenovierte Denkmalschutzperlen, eine erfreuliche Mischung für die touristische Betrachtung. Jedes nebenbei geschossene Foto ein weiteres Postkartenmotiv.

Und wäre es nicht so unfassbar heiß und schwül, ich würde öfter und länger in dieser Altstadt herumgehen und Bilder machen. Ich bin ein Fan urbaner Schönheit und als Hamburger eher bedürftig. Denn, schönste Stadt der Welt, wie einige bei uns immer eher waghalsig behaupten, hin oder her, Hamburg ist nur an wenigen Stellen schön.

Ein eisernes, kunstvoll geschmiedetes Ladenschild, es stellt die Kirche in Kaltern dar

Aber es ist mir mittlerweile entschieden zu heiß für alles. 35 Grad und mehr sind es, über die Berge ziehen Gewitter heran oder auch nicht. Man spürt sie jedenfalls, diese oben kreisenden Gewitter, sie nehmen einem die Luft. Aber das heißt nicht, dass man sie erlebt. Blitze in weiter Ferne, ein anderes Tal. Die Kleidung klebt, man zerfließt schon beim bloßen Existieren. Ein Zustand bedenklicher Auflösung, wenn man sich nicht gerade im Pool treiben lässt oder darin flotte 700 Bahnen zieht. So wie Sohn II, der hier auf einmal beachtlichen Ehrgeiz entwickelt.

Nach dem gerade noch rettenden Schwimmen sehe ich aufs Handy und finde sofort eine Meldung, die mich freundlich bestätigt. Ich fühle mich abgeholt: Schwimmen fördert die Hirnleistung. Ich merke es auch schon, es schreibt sich gleich viel leichter, that escalated quickly.

Allerdings steht da auch etwas von regelmäßig. Ich werde also jeden Tag in diesen Pool müssen. Man macht etwas mit.

Eine menschenleere Gasse in Kaltern

In der Stadt aber, wir gehen noch einmal Eis essen, sind die Schattenstreifen an den Häusern manchmal nur schmal, viel zu schmal. Noch weitere zehn Meter mit absurder Steigung und es gibt mich womöglich nicht mehr. Was von mir bleiben wird, das ist nur eine Pfütze, diese Lache der letzte Lacher.

Irgendwo im Städtchen arbeiten Dachdecker. Sie klettern über neugelegte Ziegel auf einen uralten Dachstuhl. Wir sehen sie oben in der flimmernden Luft und wissen nicht, wie das möglich ist, wie hält man das aus. Vielleicht wissen sie es auch nicht. Vielleicht fragen sie es sich jetzt gerade selbst und schon seit Tagen und Wochen ihren Chef oder ihre Chefin.

In einem Text bei der taz kommen auch Dachdecker bei Hitze vor, sehe ich. Im Sommer haben sie in diesem Beruf mittlerweile mehr Ausfälle als im Winter. Wir haben einen angehenden Dachdecker in der Familie, wir müssten einmal bei ihm nachfragen.

Eine leere Schlangenhaut liegt am Wegesrand. Elegant gewunden, ein wenig restglitzernd, so etwas sehen wir bei uns nicht. Daneben über die Straße huschende Eidechsen. Wenn man hinsieht, sind sie schon weg, über die Wege und an Hauswänden entlang. Bewegungen im Augenwinkel. Libellen patrouillieren durch den omnipräsenten Oleander und immer wieder hört man an den stilleren Ecken der Gassen die zurückhaltende Percussion von Palmwedeln auf Balkonen und in versteckten Gärtchen. Das Grün bewegt sich rhythmisch in einer Brise, die nicht einmal ansatzweise kühlt.

Schwalben jagen tief über den Pool an der Ferienwohnung und dann zwischen den Apfelbaumreihen hindurch. Sie fliegen irrwitzig rasante Figuren im warmen Wind, der über die bepflanzten Hänge streicht und nebenbei die Weintrauben und Äpfel lässig schaukelt.

Nur ab und zu die große Gnade einer Wolke. Die Stadt und die Menschen unten am Seeufer atmen kurz auf.

Aus Deutschland lese ich in den Timelines die ersten Mauerseglerabreisemeldungen aus verschiedenen Landesteilen. Ich werde in Hamburg nach unserer Rückkehr wohl keine mehr hören, nehme ich an.

Der Sommer, er hat damit seinen ersten phänologischen Knick, auch wenn er aus Hamburger Sicht nicht eben groß war. Die Mirabellen sind in Italien reif, in Deutschland ebenfalls, das war das erwartete Zeichen der nächsten Stufe. Es gibt auch schon die ersten Pflaumenkuchenerwähnungen, dazu die Rezepte in den Foodblogs. Es werden wie immer viele werden.

Wir sind im Spätsommer, wie wir neulich erst gelernt haben, und auch im August angekommen.

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Klimawandel-Update: Die Adria wird tropisch, wie das Meer vor den Malediven. Es kommen in diesem Artikel auch wieder die Algen, die Mikroalgen vor, ich hatte neulich erst diese Sendung dazu verlinkt.

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Ein Essay über das Spätwerk von Leonard Cohen, über Lateness. Aufgrund meines aktuellen Spezialinteresses möchte ich ergänzen, dass der späte Leonard Cohen auch beim Outfit einen mir besonders sympathischen Stil in der letzten Phase gefunden hat. Dieser Hut zum Anzug … also es hatte etwas.

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Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

6 Kommentare

  1. Für eine Postkarte aus Frankreich wollten sie dieses Jahr 1,96 Euro. Für eine Postkarte! Da vergeht einem die Lust am Kartenschreiben schnell wieder, falls sie noch mal aufgeflackert sein sollte…

  2. Aber habt ihr denn nun einen Briefkasten gefunden und wie sehen diese in Italien aus? Ich meine mich an rote Briefkästen zu erinnern, mag mich aber auch täuschen.

  3. Oh, ganz vergaß ich, den Pflaumenkuchen zu verbloggen. Aber egal, war ohne Chichi und ist inzwischen bis auf einen unfotogenen Rest aufgefuttert. So kann das kommen.
    Schönen Urlaub weiterhin!

  4. „Möchtest du dass deine Postkarten zeitnah in Deutschland ankommen, empfehle ich dir nur Briefmarken von Poste Italiane zu kaufen. Am besten am Anfang deiner Reise, damit diese garantiert vor deiner Rückkehr ankommen. Die Postkarten von Poste Italiane kannst du in einen der vielen roten Briefkästen einzuwerfen. Alle anderen Anbieter taugen nichts und sind zudem deutlich teurer. In diesem Sinne ein fröhliches Postkarten schreiben und eine schöne Reise durch Italien.“

    https://www.backpacker-dude.com/postkarte-italien/

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