Sich einfach alles nehmen

In Hamburg gibt es einen neu benannten Platz in Rotherbaum. Von mir aus betrachtet einmal halb um die Alster, also noch in Spaziergangsentfernung. Anna Politkowskaja wird dort geehrt. An dem Schild mit dem Straßennamen steht auch ein Gedenkstein, frische Blumen liegen darauf: „Wenn ich nicht mehr schreibe, haben meine Feinde gewonnen.“ Der NDR berichtete, ihr Sohn war bei der Einweihung anwesend.

Die letzten beiden Straßen-Umbenennungen, an die ich mich erinnere, waren Jan Fedder und Karl Lagerfeld gewidmet. Es geht recht gemischt zu in unserem Stadtplan.

Das neue Straßenschild "Anna-Politkowskaja-Platz"

***

Gehört: Ein Zeitzeichen zur Eröffnung des ersten Supermarktes in Deutschland (14 Minuten). 1949 war das. Die radikale Veränderung des Konsums in den 1950ern wird als Umwälzung oft unterschätzt, glaube ich. Dabei war es eine dermaßen weltverändernde Entwicklung, ein alltagskultureller Umbruch der weit herausragenden Art, so einschneidend wie etwa die Industrialisierung. Vielleicht, aber das ist noch nicht ganz abzusehen, wird man die aktuelle Verschiebung des Konsums in den digitalen Bereich und hin zum Versandhandel einmal ähnlich werten. Gestern gerade Schnürsenkel bestellt, die ich in den Läden hier nicht mehr bekommen habe, es kam mir dann doch etwas seltsam vor. Schnürsenkel online bestellen! Meine Güte.

Ich kann mich an die erste Supermarkteröffnung im Umfeld meines Elternhauses in Lübeck erinnern, Anfang der 70er war das. Die Entwicklung kam bei uns etwas später an. Ich weiß noch, wie fremd und neu das alles war, wie groß die Umstellung etwa im Einkaufsverhalten meiner Großmutter, an deren Hand ich damals zum „Einholen“, wie sie es nannte, mitging. Ich glaube, ich habe im weiteren Leben keinen anderen Menschen mehr vom „Einholen“ reden hören, nur in Romanen und Erzählungen kam das Wort manchmal noch vor. Eine nordostdeutsche Vokabel war es, wenn ich es richtig recherchiere. Mittlerweile wird der Begriff wohl aussterben.

Die unbegreifliche Größe des Ladens jedenfalls, diese Fläche! Und das krasse Konzept der Selbstbedienung – sich einfach alles zu nehmen, was für eine Idee war das. Das riesige Angebot. In dem es auch viele neue Produkte gab, frisch erfundene Fertigprodukte etwa. Die man, wenn ich es als Kind richtig mitbekommen habe, gerne und ohne die geringsten Bedenken gegenüber Inhaltsstoffen, Zuckergehalt etc. probierte und schnell in den Alltag integrierte. Alles so praktisch, und etwaige Bedenken kamen erst später, viel später.

Heiße Tasse und dergleichen, es wurde alles mit Begeisterung angenommen, die schöne neue Welt. Für Norddeutsche wurde das verfügbare Konsumprogramm damals jährlich vorgestellt auf der längst nicht mehr laufenden Hamburger Messe „Du und deine Welt“, deren damalige Bedeutung man heute kaum noch erklären kann. Eine Art begehbarer Versandhauskatalog war es, dort wurde umfassend registriert, was es gab und was ging. Und wie neugierig war man darauf.

Das ist wieder etwas, bei dem ich mich fühle, als würde ich aus dem 19. Jahrhundert stammen. Ich kenne die Zeit vor der Supermarktkonsumwelt noch, wie alt muss ich denn bloß sein.

Im Bild, es ist nur halbwegs passend, die Spiegelung des Fernsehturms, der immerhin neben der Messe steht, in einem Gewässer des Parks Planten un Blomen, in dem ich gerade öfter bin.

Der Hamburger Fernsehturm spiegelt sich in einem Teich in Planten un Blomen

***

Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

10 Kommentare

  1. Ausschließlich norddeutsch kann „einholen“ nicht sein, denn ich kenne es aus der Dresdner Umgebung durchaus und würde es hier noch nicht mal als ausgestorben bezeichnen …

  2. Tolles Foto. Der riesige Turm sieht aus wie eine Lampe.

    Einholen kenne ich von Mutter und Oma, Hamburgerinnen, auch. Sie sagten nichts anderes. Ich sage das heute auch noch manchmal bewusst, weil ich das Wort mag und dabei an die beiden denke. Hingegen kann ich es nicht leiden, wenn jemand sagt „ich hole mir demnächst die Sneaker“ und damit meint, das er sie kaufen möchte. Das hat sowas von Selbstbedienungsgesellschaft, in der man sich alles nimmt, ohne zu dafür zu bezahlen. Da lege ich Wert auf den Bezug zum Kaufen. Wenn es um Lebensmittel geht, empfinde ich sprachlich offenbar anders, als wenn es um Nicht-Lebensmittel beim Kauf geht.

  3. „Sich etwas holen“ als Synonym für kaufen erscheint mir als ein im Rheinland sehr verbreiteter Begriff. Ich erinnere mich noch der Irritation als ich es aus Bremen zugezogen Anfang der 60ger zum ersten Mal hörte. Bis heute bin ich immer noch stark versucht korrigierend einzugreifen wenn die Formulierung fällt

  4. Zur Formulierung „sich einfach alles nehmen“ fällt mir die Veränderung in öffentlichen Büchereien ein. Man konnte bis in die 70er Jahre nicht selbständig Bücher aus den Regalen nehmen, sondern musste bei der Bibliothekarin anfragen…Als dann die „Freihand-Büchereien“ aufkamen war das eine Revolution!

  5. Einholen 2.0: der Tag #Haul im Kontext von Fastfashion, Temu, Shein. Und dann den eingeholten Fang, die Beute, der (Follower-)Meute präsentieren. Keep hauling Ho!

  6. Wenn man denkt, diese oder jene [„nordostdeutsche“] Vokabel „stirbt bald aus“ – dann gibt es (zur ‚Rettung‘) noch die Gruppen der Exil(nordost)deutschen im Ausland – die jetzt in dritter Generation – zum Beispiel in Mexiko-Stadt – immer noch (oder wieder?) ganz selbstverständlich (!) vom **EINHOLEN** sprechen, wenn Sie „Einkaufen“ meinen… / Ich empfand das (als Ober-Bayer in Mexiko) urkomisch, dass die einheimischen (mexikanischen) Hausangestellten ausnahmslos diese Begriffe übernahmen …..

  7. Ich wurde im Hamburg der 1950er Jahre auch zum „Einholen“ geschickt.

    In dieser Zeit habe ich Lesen gelernt, wurde Mitglied der öffentlichen Bücherhallen und durfte selbst aus den Regalen zunächst die Kinderbücher, später mit freundlicher Genehmigung der Leiterin, da dort schon als Vielleserin bekannt, die Erwachsenenbücher auswählen.

    Wenn ich Ihre wunderschönen Fotokompositionen betrachte, die mich oft – wie auch heute – so erfreuen, kann ich nicht anders als die Berufsfotografen zu bedauern, die es inzwischen wohl sehr schwer haben in ihrer Profession.

  8. Das Wort Einholen kenne ich auch noch von meiner Omi (Oberschlesierin, geboren 1907); anscheinend war es in doch – siehe die vorangegangenen Kommentare – in vielen Gegenden Deutschlands verbreitet. Allerdings habe ich es seit Jahrzehnten nicht mehr gehört. Eigentlich schade!

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert