Marienkäfer, Macbeth

In der Regenrinne unter den Dachfenstern gehen suizidale Marienkäfer ins dort seit Tagen stehende Wasser, Hunderte von ihnen. Würde man sie retten wollen, es wäre ein stundenfüllendes Programm. Eine nicht zu bewältigende Aufgabe wäre das, man kommt auch gar nicht überall an, so lange Arme hat hier niemand. Nur anderes Wetter würde den Insekten noch zur Überwinterung im Trockenen verhelfen. Aber danach sieht es nicht aus, es kommt weiter ab und zu Wasser von oben nach.

Es wird also unübersehbar viel gestorben, noch ein Vorgriff auf den traditionell damit verbundenen November.

Passend dazu habe ich mir Macbeth in den Hamburger Kammerspielen angesehen, aus dem Drama kommt bekanntlich kaum eine Figur lebend raus. Damals in der Oberstufe haben wir den Text ein Schuljahr lang durchgekaut, Zeile für Zeile, Stunde um Stunde. „Like two spent swimmers, that do cling together“, manche Zeilen sind mir daher bis heute seltsam präsent. So viel Zeit haben wir damit zugebracht, mühsam herumgebracht.

Die Fassade der Hamburger Kammerspiele bei Dunkelheit

Es spricht für Shakespeare, dass mir das Stück trotz dieser Qualen guter Erinnerung blieb. Schier unkaputtbar durch Unterricht kamen und kommen mir Shakespeares Werke vor, vielleicht kann man als dichtender Mensch mehr nicht erreichen.

In den Kammerspielen nun eine Version von John von Düffel. Er hat aus dem Drama ein Zweipersonenstück gemacht, nur Macbeth und seine Gattin treten auf. Alles wurde drastisch reduziert auf den Kern. Die beiden spielen 90 Minuten ohne Pause durch und verfallen in erheblicher Geschwindigkeit der Macht, dem Wahnsinn und der Dynamik ihrer Beziehung. In eben der anschaulichen Entwicklung, die Shakespeare, das stellt man unweigerlich erneut fest, so unfassbar treffend und leider ewiggültig dargestellt hat.

Es wurden keine aktuellen Bezüge ins Stück eingebaut, obwohl man es als Kulturkonsument routiniert erwartet. Man denkt die Bezüge aber ohnehin unwillkürlich mit. Die Zeiten, unsere Zeiten, sind vielleicht auch wieder Macbeth-lastiger geworden in den letzten zehn, zwanzig Jahren, es kommt vermutlich nicht nur mir so vor. Das Drama wird ohne jede Hilfe wieder frischer. Und was für ein schlechtes Zeichen das ist, was für eine unerfreuliche Erkenntnis. „Wenn wir die Macht besitzen, machen wir die Wahrheit, und was wir sagen, wird Gesetz.“ Neofeudalismus ist ein Schlagwort unserer Zeit, es passt schon alles zusammen.

Beim Deutschlandfunk gibt es gerade ein empfehlenswertes Gespräch über sein neues Buch mit dem Soziologen Andreas Reckwitz: „Verlust ist die prägende Erfahrung unserer Zeit.“ Es sind viele anregende Passagen darin, gerne gehört. Wenn man den aktuellen und aus meiner Sicht krassen Verlust unserer Fortschrittsgläubigkeit betrachtet, erscheint es nicht so abwegig, bei einigen Aspekten wieder näher an Shakespeare zu sein. In dessen Zeit eine selbstverständliche Fortschrittserwartung noch nicht einmal erfunden war. Es gibt Verbindungslinien, scheint mir.

Ankreiden muss ich der Inszenierung, dass ich jetzt Interesse und Neigung hätte, bei Shakespeare nachzulesen, wie es im Original zuging, mit deutlich mehr als zwei Personen. Wer hat denn Zeit für so etwas.

Regie Sewan Latchinian. Auf der Bühne verausgaben sich Jacqueline Macaulay (Tochter eines schottischen Offiziers, wie passend geht das zu) und Hans-Werner Meyer bis zum bitteren Ende. Die beiden sind auch abseits der Bühne ein Ehepaar und haben in Streitfällen also berufsbedingt ganz andere Text- und Inszenierungsmöglichkeiten als unsereiner, das muss auch faszinierend sein.

Vorführungen bis zum 17. November, man kann das noch einplanen.

Der Fußweg an der Binnenalster, Ballindamm, mit Herbstlaub bedeckt

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Ein Kommentar

  1. wer keine Zeit hat, bei Shakespeare nachzulesen, aber Hörbücher liebt, dem sei „Shakespeare appreciated“ empfohlen. Kommentierte Fassung, wunderbar, nicht nut für Macbeth

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