Eine Meldung aus dem Reservat

Nach der erfolgreichen Abwicklung des Totensonntags können wir vermutlich auch nach eher konservativer Auslegung full christmas gehen. Die Weihnachtsmärkte werden es ebenfalls so halten und die dekorative Beleuchtung in den Städten wird ab heute sicher maximal eskaliert. Emotional erreicht mich das Thema Weihnachten mit fast keinem Aspekt, nur musikalisch finde ich wieder einiges nett und wärmend, mit Stücken aus verschiedenen Epochen und Stilrichtungen.

Daher erinnere ich schon einmal, denn es gibt immer welche, die in den Vorjahren gerade nicht hingesehen haben, an die vermutlich zugänglichste Weihnachtsoratoriums-Version, also an die mittlerweile 11 Jahre alte Leipziger WG-Aufnahme. Eine Freude, eine helle, nach wie vor und immer wieder. Ich verdanke dieser Aufnahme ein wenig, dass mir die klassische Musik überhaupt etwas näher kam. Sie stand da fast am Anfang von allem.

Um wieder einen Youtube-Kommentar zu zitieren:

„I’ve been watching this for years. What’s really striking other than the fact that it’s a beautiful interpretation and performance is that all of these people seem to be really nice and kind people who care about each other, aren’t in toxic competition with each other, and truly, deeply love the music. Performing this really is a „party“ for them.“

Bei der Gelegenheit bemerke ich einen interessanten Aspekt, der mir beim Sehen von Videos mit klassischer Musik in den letzten Wochen mehrfach aufgefallen ist: In den Kommentaren darunter findet man eine erstaunlich trollfreie Zone. Es herrschen dort Zustände, die an heute selig wirkenden Zeiten erinnern. Als noch nicht das ganze Internet und auch kein viel zu großer Teil des Offline-Alltags durch populistische und hasserfüllte, zerstörerische und verlogene Kommentare versaut waren. In einer Zeit, die man aus für mich nachvollziehbaren Gründen zunehmend nostalgisch verklären möchte

Man ist sich in diesen Kommentaren bezogen auf Werte und Bildungsaspekte noch weitgehend einig, man teilt eine Grundhaltung. So wird etwa die Ansicht, dass jemand wie Mozart recht gut komponieren konnte, allgemein abgenickt und nicht in jedem dritten Posting grundsätzlich in Frage gestellt. Von wegen der Trottel und Hurensohn konnte doch nichts und hat alles versaut.

Vielleicht noch grundsätzlicher, man ist sich auch einig, dass es Mozart tatsächlich gab.

Man stimmt auch darin überein, dass klassische Musik erstrebenswert als Kulturgut ist. Man mag also kollektiv etwas, ohne dass es andere lautstark, mit erheblichem Mitteilungsdrang und nervtötender Frequenz in aller Deutlichkeit hassen und abwerten. Der sonst so unübersehbare Trieb, etwas kleinkindhaft kaputtzumachen, er bricht sich hier nicht Bahn. Es wird auch nicht permanent verlangt, kulturelle Errungenschaften durch Rückschritte oder an dieser Stelle Abseitiges zu ersetzen. Noch steht also z.B. nicht unter jeder Aufnahme von Vivaldi oder Händel: „Wir wollen Schlager!“ oder „Hört Rammstein!“

Es ist eigentlich erstaunlich.

Dergleichen ist nicht mehr einfach zu finden, da das Trollhafte sich in kindischer Weise gegen alles Gute und Schöne richtet, selbstverständlich auch gegen alles Etablierte.

Bei dieser Musik wird sogar noch von den Kommentierenden begrüßt, dass die Musikerinnen und Musiker das lernen, was sie da tun, dass sie sich größte Mühe geben. Es wird ihnen nicht als lächerliche Zeitverschwendung und falsches Abbiegen ausgelegt. Es wird nicht als Schwachsinn bezeichnet, sich mit ihrem Thema abzugeben. Ihre Lernerfolge und Leistungen werden oft gewürdigt, sie werden gelobt und gefeiert.

Die eher seltenen kritischen Anmerkungen sind häufig von hoher Fachkompetenz gekennzeichnet. Ein französischer Organist merkt unter einem Orgelstück von Buxtehude etwas an. Ein anderer, aus einem noch ferneren Teil der Welt, antwortet etwas darauf, und sie tun es beide höflich, ja, höflich. Sie beziehen sich auf ihr Wissen und ihre reichen Erfahrungen, nicht auf ihre Affekte, auf ihre schlechte Laune und ihren Hass auf alles.

Schon schön, so etwas. Eine Art Reservat.

Man muss aber bei älterer Musik bleiben. Guckt man in der Gegenwart, etwa kurz bei Taylor Swift, braucht man nur ein paar Zeilen, um vermutlich Strafbares in den Anmerkungen zu finden.

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Was kann ich Ihnen heute noch anbieten. Ich habe diese Doku auf arte über Thomas Manns Zauberberg gesehen. Und beim Deutschlandfunk mit der Langen Nacht über Puccini angefangen. Von Puccini habe ich wieder wenig Ahnung, aber die Sendung ist dennoch interessant. Also gut gemacht, wie meistens in dieser Reihe.

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Ansonsten bin ich kurz an der Elbe gewesen und habe in der Winterjacke unsinnig geschwitzt bei plötzlichem Frühlingswetter. Vom Museumshafen ein Bild mitgebracht:

Dwer Museumshafen bei Övelgönne im Abendlicht, im Bildmittelpunkt der Eisbrecher Stettin, im Hintergrund Kräne

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3 Kommentare

  1. Diese WO-Variante aus meiner Nachbarstadt begeistert mich auch schon lange … hier lese ich und kommentiere ich noch nicht so lange. Ist es „nur“ die überspringende Begeisterung oder gibt es einen einen persönlichen Bezug?

  2. Lieber Herr Buddenbohm,

    ich möchte Ihnen eine deutliches „PSSSSSSST“ zurufen, wobei man das ja eher nicht wirklich rufen kann. Verraten Sie doch bitte die trollfreien Winkel und Ecken nicht! Es sind so heimelige und selten gewordene Orte. Man sollte Schutzgebiete ausschildern.

    Herzliche Grüße aus Leipzig
    Nelia

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