1982, 1993, 2025

Und dann wurde es neulich noch schlimm, als ich über die Wahlbeteiligung im geschichtlichen Verlauf nachdachte, ich erwähnte es. Denn ich kam noch auf weitverzweigte nostalgische Abwege und las etliches über die speziell hanseatische Ausprägung der linksorientierten, westdeutschen Vergangenheit nach. Über Willy Brandt, über Helmut Schmidt. Und auch – da fiel mir dann etwas ein, über Björn Engholm. Es fiel mir nämlich ein, wie falsch 1993 die Geschichte für mich und für viele andere abgebogen ist.

Ich hätte die Jahreszahl nicht einmal mehr parat gehabt. Aber das war das Jahr, in dem Engholm abging, von allen Ämtern und Zukunftsaussichten. Und es geht mir nicht darum, ob er nun die Lichtgestalt war, für den ihn viele damals gerne gehalten haben. Im Zweifelsfalle müssen solche Fragen ohnehin stets verneint werden, wie die Geschichte uns gründlich und oft bewiesen hat. Es geht mir nur darum, was für eine grundsätzliche Enttäuschung es für uns war. Das hätte so nicht passieren dürfen, er hätte Kanzler werden müssen. Es war erwartbar geworden, und wie richtig wäre es gewesen, aus unserer Sicht.

Im Grunde war es eine Kränkung, dass es nicht so kam, eine Zumutung der politischen und geschichtlichen Entwicklung. Eine von recht vielen Kränkungen war es dann nur, wie wir mittlerweile wissen. Aber doch eine der schlimmeren.

Er hat später in Interviews gesagt, der Herr Engholm (interessant besonders dieses von 2007 beim Deutschlandfunk, ruhig mal trotz der Länge nachlesen, es ist erhellend), dass er es nie bereut habe, aus der Politik gegangen zu sein. Ich würde es ihm gönnen, dass es so stimmt, so viel Lübecker Verbundenheit muss schon sein.

Und wo ich gerade bei Engholm war und heute die News-Seiten sehe – man kann sich zwischendurch noch einmal klarmachen, dass es Zeiten gab, in denen ich nicht einen derartigen Ekel vor nahezu allen omnipräsenten Gesichtern aus der Politik hatte.

Die erste Zumutung in dieser Hinsicht und für meine Generation war Helmut Kohl. Es ist schwer zu beschreiben, wie sehr wir es als Zumutung und Belästigung empfunden haben, als er zum ersten Mal Kanzler wurde und fortan immer und überall war. Wie unterirdisch uns das vorkam, wie bedrückend und höchst peinlich. Wie das nicht wahr sein konnte und durfte.

Aus heutiger Sicht und im Vergleich zu den aktuellen Horror-Clowns der weltweiten Rechten, inklusive der deutschen Varianten, muss man allerdings sagen, dass Kohl geradezu ein Ehrenmann war.  Und es will etwas heißen, wenn man das so sagen muss.

Es wurde dann später auch wieder besser. Wobei ich da natürlich nur für mich sprechen kann. Aber die Merkeljahre zumindest waren bei mir eine Ekelpause.  Ich war mit ihr nie oder höchst selten einverstanden, aber auf diese besondere Art grässlich fand ich sie nie, dass ich mir große Mühe gegeben hätte, ihr Gesicht nicht zu sehen. Merkel war auszuhalten. Was geschichtlich auch eine interessante Wertung ist und tatsächlich erstaunlich viel erklärt, ich weiß.

Nun eine Gegenwart, in der ich mir dringend wie nie einen Filter für sämtliche Medien weltweit wünsche, damit ich diese feixenden, von zutiefst verdorbenen Persönlichkeiten und geradezu desaströsen Charakterdefiziten zeugenden Gesichter der Führer und Führerinnen der im weitesten Sinne rechten Bewegung nicht mehr dauernd ertragen muss.

Denn ich finde sie in einer Weise unerträglich, die ich mir 1982, als Kohl zum ersten Mal Kanzler wurde, noch nicht einmal vorstellen konnte.

***

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10 Kommentare

  1. Das ist ein – naja, vielleicht doch gar nicht so unlogischer – schöner Zufall: Ich dachte exakt darüber, ok, abzüglich des Engholm-Teils, gestern Abend noch nach. Habe lang überlegt, wie ich Frau Merkel einordne, ob der Stillstand mit ihr nicht auch ein dringender Teil der Bewertung sein muss – aber auch den mit einbezogen war sie immer ein Mensch.
    Aber auch ich hätte damals gedacht, schlimmer als Kohl kann es nicht sein – diese unfassbare Selbstgefälligkeit, dieses Klassendenken, die unverhohlene Abscheu gegen alles, was größer war als sein gutbürgerlicher Horizont.
    Habe das länger als Heftigkeit der Jugend abgetan, aber ich habe heute noch körperliche Reaktionen, wenn mal eine Doku oder so läuft in diesem Haushalt, in dem gern politische Dokus geschaut werden.

    Und dann höre ich, wie diese Luftpumpe gefragt wird, ob man sich als Grundsatz wenigstens darauf einigen könne, dass die Würde des Menschen als Grundsatz erst einmal als Gesprächsbasis stände und er weiß nichts anderes zu tun, als auszuweichen, damit er dann soziale Gerechtigkeit im nächsten sazu so definieren kann, dass er und seinesgleichen ja schließlich besser da stehen müssen, weil er ja mehr leistet. Alle sandere sei ja schon etwas links. Keine Haltung, keine Ehre, keine Idee, worauf er da seinen Eid geschworen hat; aber Rhetorik-durchgecoacht bis in die letzte Faser.
    Und dieser Ekel ist nicht auszuhalten. (Beliebig viele Beispiele aller anderen Personen bitte selbsttätig hier einfügen, das ist nur das jüngste Erlebnis, das ich nicht schnell genug wegklicken konnte)
    Entschuldigung, jetzt hab ich mich glatt in Rage kommentiert.

  2. Sie sagen es.
    Ich habe schon briefgewählt, bin aber ohne Hoffnung. So zuwider war mir die Welt noch nie.
    Wie viele Demokratien gibt es derzeit noch? Vier, fünf? Ist der größte Teil der Menschen tatsächlich so verblödet wie schon Meister Brecht schrieb: „nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber“?

  3. @Trulla: Das Zitat „Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihren Schlächter selber“, wird irrtümlich oft Bertolt Brecht zugeschrieben.
    Dabei taucht dieses Zitat schon viel früher auf. Nämlich um 1875 auf einem Schweizer Stimmzettel zur Wahl der Züricher Steuerkommission.

    Der Autor allerdings ist unbekannt.

  4. @maik: danke, wieder was gelernt.

    Wohl nicht nur ich hatte nie Zweifel an der Urheberschaft Brechts – es passte zu seinem Werk.

  5. Danke für Ihre Texte lieber Herr Buddenbohm, und ganz besonders für diesen, denn er spricht auch mir zutiefst aus der Seele!

  6. Hm 1993 ist für mich das Jahr von Solingen, dem Jahr nach Rostock-Lichtenhagen – und der Erfahrung, dass es niemand so richtig jenseits der Sonntagsreden interessierte. Insofern war auch die Engholm-SPD politisch schon abgeschrieben.

    1995 ging ich dann nach Leipzig, und während Freunde und Bekannte zusammengeschlagen wurden, weil sie die falsche Haut- oder Haarfarbe hatten, versuchten mir irgendwelche Medien was vom Partyjahrzehnt zu erzählen, Schröder rief den „Aufstand der Anständigen“ aus, der vor Ort genau gar nichts veränderte.

    Insofern: Zumindest ich hab mich nach 30 Jahren daran gewöhnt, dass der Faschismus zur Tür hereindrängt und man die ganze Zeit die Tür versucht mit Möbeln zu verbarrikadieren (Ich glaube ich kenne sogar Menschen, die dieses Szenario fast genauso realiter erlebt haben). Ich hab mich auch seit 30 Jahren dran gewöhnt, wie Politik (einschließlich 7 Jahren rot-grün) das weitgehend ignoriert, bestenfalls in hilflose Geschäftigkeit ausbricht.

    Und fast lustig, obwohl ich in meiner wilden Jugend noch Wahlplakate mopste und sicher auch AfD-Wahlständen das Leben sehr unangenehm gemacht hätte, kann ich den Frust über das selbstgefällige westdeutsche Milieu, dass sich die ganzen 2000er und 2010er, gerne auch rot-grün, in Partylaune sonnte, der den AfD-Erfolg antreibt, sogar nachvollziehen.

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