Ich grase jeden Morgen meine Timelines nach lesbaren und interessanten Texten ab, ich benutze dafür ein paar Apps. Das Verfahren ist theoretisch so eingestellt, dass eine gewisse Vielfalt der Themen dabei geradezu zwingend eintritt. Das funktioniert fast immer, es sei denn, es wird ein Trump zum amerikanischen Präsidenten gewählt. Dann diskutieren alle nur noch amerikanische Themen. Die Leute aus den Medien und aus der Politik sowieso, aber auch die Eltern- und Schulbloggerinnen, die Leute aus der Buchbranche und aus dem Feuilleton, die Leute aus Hamburg und der Region, die Leute aus der nachhaltigen Wirtschaft, ich selbst, alle, alle – und das geht im Offline-Teil des Lebens auch noch so weiter. Im Büro, auf dem Schulhof, in der S-Bahn. “Make America great again” hat thematisch bisher also absolut funktioniert.
Weswegen es nach ein paar Tagen ganz erfrischend ist, Artikel zur Lage in Europa oder in Deutschland zu lesen. Antje Schrupp schrieb vor ein paar Tagen etwas zur Bundestagswahl im September (haben Sie bei Formulierungsdetails wie “Schrupp schrieb” eigentlich auch eine Stimme im Kopf, die automatisch ein passend klingendes “Schrapp” ergänzt? Oder bin ich am Ende seltsam?). Ein Artikel, bei dem mir auffiel, wie spannend die persönliche Wahlentscheidung in diesem Jahr ist. Mehr Schachspiel war nie, mehr Sympathie für jeden, der überhaupt irgendwas wählt, was nicht rechtsaußen ist, war auch nicht, man möchte geradezu mit allen demokratisch eingestellten Wählern auf die Verfassung anstoßen. Weswegen auch solche Analysen jetzt ziemlich unterhaltsam sind.
Ich habe mich bisher nicht entschieden, es ist noch Zeit. Es gab viel Kritik an der Art, wie Martin Schulz zu seiner Rolle kam, die Kritik konnte ich nachvollziehen. Wenn die Umfragen aber jetzt so ausfallen, dass die SPD durch ihn massiv aufholt, dann freut mich immerhin das Ergebnis der Aktion, weil diese Bewegung der ganzen Sache sicher dienlich ist. Demokratie darf ein wenig spannend sein, dann interessiert sie auch wieder mehr. Na, das ist am Ende auch nur eine windige Hypothese. Spannend finde ich aber auch, ob die SPD bis September nur Sprechblasen mit dem Standardbegriff “Gerechtigkeit” absondert, oder ob da noch ein Inhalt beigefügt wird, mit dem sich die Partei von ihrer bis heute desaströs wirkenden und sozial eiskalten Hartz-IV-Politik-Phase abwendet.
Ich halte mich für einen sportlich eingestellten Nachrichtenleser, ich versuche schon, möglichst viel mitzubekommen. Ich habe aber immer noch nicht verstanden, was nun genau die aktuelle Ausrichtung der Grünen ist, und ich habe nach wie vor nicht die leiseste Ahnung, was die FDP will. Wenn sie etwas will, außer irgendwie dabei zu sein. Ich kann das bestimmt irgendwo nachlesen, schon klar, aber die entsprechenden Artikel wurden mir bisher einfach nicht auf den Bildschirm gespült. CDU, CSU und Linke kann ich mir dagegen einigermaßen vorstellen.
Und unterm Strich immer wieder die Frage – wie kann es denn nur sein, dass man keine dieser immerhin fünf Parteien wirklich super findet und auch beim Rest nichts entdeckt, was einem bei näherer Betrachtung überzeugend wählbar vorkommt? Bin ich denn so dermaßen schräg und verquer anspruchsvoll drauf, dass mir einfach nichts passt? Und wieso ist es überhaupt notwendig, dass in Blogs solche Ideen hier ventiliert werden. Ideen, die ich richtig finde, die aber auf Versäumnisse hinweisen. “ Vielleicht kann es ein Anfang sein, Menschen wieder weg von gefühlten Wahrheiten zu bringen, hin zu „Was geschah wirklich?“ Mir gehen Gefühle aller Art in politischen Diskussionen nur noch auf den Geist. Haltung, Fakten und Werte braucht man in der demokratischen Entscheidungsfindung. Eine Haltung ist keine Meinung. Fakten sind nicht beliebig. Und Werte sind keine Gefühle, Gefühle sind keine Werte, auch wenn das gerade so viele durcheinanderwerfen.
Dass die unterwegs verloren gegangene Sachebene damit irgendwann geradezu sexy werden könnte, wer hätte das gedacht? Man sieht im Geiste plötzlich wieder Hans-Jochen Vogel vor sich, wie er unerbittlich Klarsichthüllen sortiert. Man überlegt hin und her, ob man ihm damals vielleicht Unrecht getan hat, soweit sind wir ja schon.
Und jetzt übe ich weiter mit einem der Söhne Mathe. Das kleine Einmaleins, lauter festgefügte Wahrheiten, alle unumstößlich, sehr angenehm. Ab und zu braucht man so etwas.