Da waren also wieder die üblichen zwei Tage im Jahr, die wir ohne Kinder verbringen. Also tatsächlich die einzigen beiden Tage im Jahr komplett ohne Kinder, in die muss dann sehr viel Erholung passen. Weswegen wir immer wieder an den selben Ort fahren, nach Kühlungsborn. Kühlungsborn ist in Wahrheit so toll nun auch wieder nicht, aber da ist der Ablauf geregelt, da geht alles immer genau den Gang, den wir vorgesehen haben, und Überraschungen braucht man nicht, wenn man zwei bis drei Nickerchen pro Tag machen möchte. Mindestens.
Deswegen schaffen wir es, nach Ablauf eines Jahres zu nahezu identischer Uhrzeit wie im Vorjahr im selben Café auf den üblichen Plätzen die gleiche Torte wie im Vorjahr zu bestellen. Womöglich sind wir ein klein wenig schrullig, okay. Jedem seine Abgründe. Wir ziehen aber immerhin in Erwägung, nächstes Jahr doch einmal woanders hinzufahren. Die Torte hat nicht geschmeckt, da bin ich eigen, so etwas muss Folgen haben.
Wir sind in Hamburg bei bestem Wetter losgefahren, das Wetter war sogar so schön, dass ich keine Jacke mitgenmommen habe. Das fiel mir aber erst abends in Nordostwestfalen auf. Wenn wir nach Kühlungsborn wollen, dann müssen wir erst nach Nordostwestfalen, um die Kinder zu den Großeltern zu bringen, das ist ein dezenter Umweg, wie die kartenkundigen Leserinnen ahnen können. Da stand ich dann im Abendhauch frierend am Rand des Nachbarackers und mir fiel gerade noch rechtzeitig ein, dass Schwiegermutter gerne meine abgelegten Outdoorjacken aufträgt, um sich auf Hundetrainingsplätzen damit angemessen zu kleiden. Ich habe also so eine dieser Jacken von ihr zurückgeliehen, es war schon dunkel, ich habe mir die Jacke nicht näher angesehen.
In Kühlungsborn war es bei unserer Ankunft nicht mehr frühlingshaft, sondern kühl und grau, wir standen etwas verblüfft am Strand. Genau genommen war es so kühl, dass man es auch kalt nennen konnte, wenn nicht sogar saukalt. Es wehte ein ganz ordentlicher Wind, der Himmel hing tief und die See roch aufgewühlt. Dieser Geruch an der Küste, wenn die Wolken so nah sind, dass alles komprimiert wird und intensiver wird, wenn man meint, jeden Halm Tang riechen zu können, jede einzelne brechende Welle, jedes nasse Stück Holz am Steg. Es war grau, sehr grau um uns herum und die wenigen Spaziergänger hatten diesen forsch bemühten “Das ist aber jetzt trotzdem schön!”-Schritt, mit dem sie die Strandpromenade einmal auf- und abgingen, um sich ihren Nachmittagskaffee zu verdienen oder die Hunde zu bewegen. Das war so ein Grau, dem man ansieht, dass es nicht weggeht, heute nicht und auch nicht morgen und übermorgen nur vielleicht. So ein festsitzendes Strandgrau. Wir sahen aufs Meer, wir sahen auf den leeren Strand, die Luft war wie im November. Oder wie im März? Im Januar? Die Luft war nicht wie im Frühling, Sommer, Herbst oder Winter, die Luft war wie graues Wetter an der Ostsee, das ist eine fast ganzjährige Möglichkeit, eine regionale Sonderform, und wenn man aus der Zeit gefallen plötzlich am Strand stünde, man wüsste unmöglich, in welchem Viertel des Kalenders man gerade ist. Irgendwo im kühlen Grau eben. Outdoorjackengrau.
Dieses kühle Grau, das mich früher so gekränkt hat. Ich könnte Bücher darüber schreiben, wenn ich es nicht schon getan hätte. Dieses Grau,in dem ich heute noch unweigerlich geisterhaft Hilde am Strand sehe, auch wenn ich gar nicht in Travemünde bin. Eine betrunkene Hilde, wie sie schwankend und Obszönitäten in den Wind brüllend Steine in die Brandung der Ostsee wirft, mit offener Pelzjacke und derangierter Frisur, der Pudel wie immer mit indigniertem Blick starr daneben. Wie sie mir zuwinkt und lacht, wild lacht, vulgär lacht. Ich sehe heute noch Stefan, Sarah und mich über den Strand gehen, planlos und lustlos, Miesmuscheln zertretend, von Nord nach Süd und wieder zurück. “Was machen wir jetzt?” Weit vom Sommer, diese Strandspaziergänge, sehr weit sogar. Ich sehe heute noch den alten Hugo aus dem Kioskfenster zur Fahrrinne starren. Ausdruckslos, geduldig und grau wie die See. “Pommes für euch?”
Die geliehene Jacke hat der Familienkatze jahrelang als Schlafplatz gedient und ist so haarig, wie man es bei glatten Outdoortextilien gar nicht für möglich hält. Ich schüttele sie herum, ich zupfe an den Haaren, das ist alles völlig sinnlos. Sie war einmal schwarz, jetzt ist sie altkatzensilbergrau. Ich trage eine Katzenhaarjacke und sehe aus, als sei das ein neuer Hipster-Spleen. Ich gehe mit der Herzdame Hand in Hand, aber sie hält einen Meter Abstand, sie will keine Haare abbekommen. Meine Fingerspitzen an ihren Handschuhen. Wir gehen durch das kühle Grau und es ist alles in Ordnung. Das Grau ist fotogen, Handyfotos von schlechter Sicht am Meer werten die Szenerie dann doch etwas auf. Als ich jung war, da gab es kein Instagram, wir hatten ja nichts.
Es ist kalt und grau und es macht nichts. Wir wollen sowieso ins Bett, wir können da auch gleich bleiben, da ist schlechtes Wetter sogar praktisch. Ich habe eine Herzdame an der Hand und ich nehme sie mit. Wir haben zwei Kinder und Sarah hat zwei Kinder und Stefan hat ein Kind und wir schreiben uns ab und zu auf Facebook oder auf Twitter. Das Grau hier vor mir ist jetzt völlig okay, so ist es gekommen. Es riecht fischig und es riecht gut, soll das Wetter doch so bleiben. Schön ruhig hier, man könnte eigentlich auch öfter ans Meer fahren.
Hinten im Yachthafen schaukelt ein Schiff mehr als die anderen, man hört Musik herüberwehen. “Alle die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein…” und die Herzdame muss stehen bleiben, weil es sie so rührt, dass da jemand im Grau auf einem ziemlich kleinen Boot sitzt und feiert und etwas von wilder Kaperfahrt singt. Die jungen Männer mit dünnen Bärten, die da an Bord sitzen und das Lied mitgrölen, die würden wahrscheinlich nicht wollen, dass ihre Party irgendwelche Herzdamen rührt, aber was soll man machen, so ist das mit der Jugend. Man wird nicht verstanden.
Wir gehen ins Bett und im Wald hinterm klopft ein Specht und schreit ein Käuzchen und vor dem Hotel rufen die Möwen über der Ostsee und der Regen trommelt leise an unser Fenster und wir ziehen die Decke hoch.
Zwei Tage an der Ostsee. Auch mal schön.