Übrigens…

… ist bei dem neuen Projekt „Was machen die da“ wieder ein neuer Artikel erschienen, den findet man hier. Und Isa und ich bemerken gerade die feine Ironie der Angelegenheit, dass man nämlich, wenn an andere beim Machen von Sachen besucht und beobachtet und mit ihnen Interviews führt und sie fotografiert, nicht mehr dazu kommt, andere Sachen zu machen. Also etwa Blogeinträge zu schreiben.

Dabei gäbe es zu der Modedesignerin, zu dem Kurator, zu der Schuhhändlerin und der Buchbinderin durchaus noch etwas anzumerken, so ist es ja nicht. Kommt auch noch. Wir üben etwas am Timing herum, ich bin da ganz zuversichtlich. In der Zwischenzeit können Sie drüben ja schon einmal nachlesen,  was passiert, wenn man mit 42 noch eine Ausbildung anfängt. Für den einen oder anderen kommt das sicher noch rechtzeitig, nehme ich an.

Hände mit Pinsel

In Kürze hier dann mehr zu den Risiken und Nebenwirkungen des neuen Projektes, ich schreibe da mal zunächst etwas in Bezug auf die Modedesignerin zusammen. Schalten Sie auch morgen wieder ein, wenn es heißt: „Herr Buddenbohm steht vor dem Spiegel und fragt sich, warum er die Kleidung trägt, die er trägt.“

 

 

Mal eben ans Meer

Da waren also wieder die üblichen zwei Tage im Jahr, die wir ohne Kinder verbringen. Also tatsächlich die einzigen beiden Tage im Jahr komplett ohne Kinder, in die muss dann sehr viel Erholung passen. Weswegen wir immer wieder an den selben Ort fahren, nach Kühlungsborn. Kühlungsborn ist in Wahrheit so toll nun auch wieder nicht, aber da ist der Ablauf geregelt, da geht alles immer genau den Gang, den wir vorgesehen haben, und Überraschungen braucht man nicht, wenn man zwei bis drei Nickerchen pro Tag machen möchte. Mindestens.

Deswegen schaffen wir es, nach Ablauf eines Jahres zu nahezu identischer Uhrzeit wie im Vorjahr im selben Café auf den üblichen Plätzen die gleiche Torte wie im Vorjahr zu bestellen. Womöglich sind wir ein klein wenig schrullig, okay. Jedem seine Abgründe. Wir ziehen aber immerhin in Erwägung, nächstes Jahr doch einmal woanders hinzufahren. Die Torte hat nicht geschmeckt, da bin ich eigen, so etwas muss Folgen haben.

Wir sind in Hamburg bei bestem Wetter losgefahren, das Wetter war sogar so schön, dass ich keine Jacke mitgenmommen habe. Das fiel mir aber erst abends in Nordostwestfalen auf. Wenn wir nach Kühlungsborn wollen, dann müssen wir erst nach Nordostwestfalen, um die Kinder zu den Großeltern zu bringen, das ist ein dezenter Umweg, wie die kartenkundigen Leserinnen ahnen können. Da stand ich dann im Abendhauch frierend am Rand des Nachbarackers und mir fiel gerade noch rechtzeitig ein, dass Schwiegermutter gerne meine abgelegten Outdoorjacken aufträgt, um sich auf Hundetrainingsplätzen damit angemessen zu kleiden. Ich habe also so eine dieser Jacken von ihr zurückgeliehen, es war schon dunkel, ich habe mir die Jacke nicht näher angesehen.

#kuehlungsborn #baltic

In Kühlungsborn war es bei unserer Ankunft nicht mehr frühlingshaft, sondern kühl und grau, wir standen etwas verblüfft am Strand. Genau genommen war es so kühl, dass man es auch kalt nennen konnte, wenn nicht sogar saukalt. Es wehte ein ganz ordentlicher Wind, der Himmel hing tief und die See roch aufgewühlt. Dieser Geruch an der Küste, wenn die Wolken so nah sind, dass alles komprimiert wird und intensiver wird, wenn man meint, jeden Halm Tang riechen zu können, jede einzelne brechende Welle, jedes nasse Stück Holz am Steg. Es war grau, sehr grau um uns herum und die wenigen Spaziergänger hatten diesen forsch bemühten “Das ist aber jetzt trotzdem schön!”-Schritt, mit dem sie die Strandpromenade einmal auf- und abgingen, um sich ihren Nachmittagskaffee zu verdienen oder die Hunde zu bewegen. Das war so ein Grau, dem man ansieht, dass es nicht weggeht, heute nicht und auch nicht morgen und übermorgen nur vielleicht. So ein festsitzendes Strandgrau. Wir sahen aufs Meer, wir sahen auf den leeren Strand, die Luft war wie im November. Oder wie im März? Im Januar? Die Luft war nicht wie im Frühling, Sommer, Herbst oder Winter, die Luft war wie graues Wetter an der Ostsee, das ist eine fast ganzjährige Möglichkeit, eine regionale Sonderform, und wenn man aus der Zeit gefallen plötzlich am Strand stünde, man wüsste unmöglich, in welchem Viertel des Kalenders man gerade ist. Irgendwo im kühlen Grau eben. Outdoorjackengrau.

#kuehlungsborn

Dieses kühle Grau, das mich früher so gekränkt hat. Ich könnte Bücher darüber schreiben, wenn ich es nicht schon getan hätte. Dieses Grau,in dem ich heute noch unweigerlich geisterhaft Hilde am Strand sehe, auch wenn ich gar nicht in Travemünde bin. Eine betrunkene Hilde, wie sie schwankend und Obszönitäten in den Wind brüllend Steine in die Brandung der Ostsee wirft, mit offener Pelzjacke und derangierter Frisur, der Pudel wie immer mit indigniertem Blick starr daneben. Wie sie mir zuwinkt und lacht, wild lacht, vulgär lacht. Ich sehe heute noch Stefan, Sarah und mich über den Strand gehen, planlos und lustlos, Miesmuscheln zertretend, von Nord nach Süd und wieder zurück. “Was machen wir jetzt?” Weit vom Sommer, diese Strandspaziergänge, sehr weit sogar. Ich sehe heute noch den alten Hugo aus dem Kioskfenster zur Fahrrinne starren. Ausdruckslos, geduldig und grau wie die See. “Pommes für euch?”

Die geliehene Jacke hat der Familienkatze jahrelang als Schlafplatz gedient und ist so haarig, wie man es bei glatten Outdoortextilien gar nicht für möglich hält. Ich schüttele sie herum, ich zupfe an den Haaren, das ist alles völlig sinnlos. Sie war einmal schwarz, jetzt ist sie altkatzensilbergrau. Ich trage eine Katzenhaarjacke und sehe aus, als sei das ein neuer Hipster-Spleen. Ich gehe mit der Herzdame Hand in Hand, aber sie hält einen Meter Abstand, sie will keine Haare abbekommen. Meine Fingerspitzen an ihren Handschuhen. Wir gehen durch das kühle Grau und es ist alles in Ordnung. Das Grau ist fotogen, Handyfotos von schlechter Sicht am Meer werten die Szenerie dann doch etwas auf. Als ich jung war, da gab es kein Instagram, wir hatten ja nichts.

Es ist kalt und grau und es macht nichts. Wir wollen sowieso ins Bett, wir können da auch gleich bleiben, da ist schlechtes Wetter sogar praktisch. Ich habe eine Herzdame an der Hand und ich nehme sie mit. Wir haben zwei Kinder und Sarah hat zwei Kinder und Stefan hat ein Kind und wir schreiben uns ab und zu auf Facebook oder auf Twitter. Das Grau hier vor mir ist jetzt völlig okay, so ist es gekommen. Es riecht fischig und es riecht gut, soll das Wetter doch so bleiben. Schön ruhig hier, man könnte eigentlich auch öfter ans Meer fahren.

Hinten im Yachthafen schaukelt ein Schiff mehr als die anderen, man hört Musik herüberwehen. “Alle die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein…” und die Herzdame muss stehen bleiben, weil es sie so rührt, dass da jemand im Grau auf einem ziemlich kleinen Boot sitzt und feiert und etwas von wilder Kaperfahrt singt. Die jungen Männer mit dünnen Bärten, die da an Bord sitzen und das Lied mitgrölen, die würden wahrscheinlich nicht wollen, dass ihre Party irgendwelche Herzdamen rührt, aber was soll man machen, so ist das mit der Jugend. Man wird nicht verstanden.

Wir gehen ins Bett und im Wald hinterm klopft ein Specht und schreit ein Käuzchen und vor dem Hotel rufen die Möwen über der Ostsee und der Regen trommelt leise an unser Fenster und wir ziehen die Decke hoch.

Zwei Tage an der Ostsee. Auch mal schön.

#kuehlungsborn

#kuehlungsborn

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#kuehlungsborn

#kuehlungsborn

#kuehlungsborn

Dialog am Abend

Ich: “Was macht eigentlich Lars beruflich?”

Die Herzdame: “Welcher Lars?”

Ich: “Na Lars, der Vater von Dings. Tim.”

Die Herzdame: “Der heißt Lars?”

Ich: “Heißt er nicht?”

Die Herzdame: “Keine Ahnung. Ich wusste nicht einmal, dass der überhaupt einen Namen hat.”

Gelesen, vorgelesen, gesehen, gespielt und gehört im März

Gelesen

Guy de Maupassant: Stark wie der Tod. Übersetzt von Hermann Lindner und illustriert von Jim Avignon.

Maupassant

Maupassant

Wiedergelesen, weil die Büchergilde jetzt diese schön illustrierte Ausgabe hat. Das ist, wie man bei Edeka sagen würde, ein sehr geiler Roman, gar keine Frage, der wäre bei einer Auswahl meiner zehn liebsten Romane ganz sicher dabei. Ein alternder Maler, der seinen kreativen Höhepunkt deutlich hinter sich hat, hat immer noch seine Muse als Geliebte, eine Dame, die ihn vor vielen Jahren in die richtige Richtung seiner Kunst geschoben hat. Man ist gemeinsam älter geworden, das Feuer ist heruntergebrannt, man ist sich aber nach wie vor sehr gewogen. Bis der Maler sich in die Tochter der Dame verliebt, die aussieht wie eine verjüngte Ausgabe der Mutter, schön wie damals, lockend wie damals, unwiderstehlich wie damals. Das ruiniert selbstverständlich alles und konsequenterweise endet das Buch äußerst betrüblich. Aber egal, wer schon einmal ein paar Runden in seinem Leben geliebt hat, der versteht, was hier passiert, der leidet mit. In der Story passiert nicht viel, das findet alles nur in den Herzen statt, und man möchte den bluttriefenden Plakatwerbungen für aktuelle Thriller zurufen, dass das hier wirklich grausam ist und einen mitnimmt, diese Liebesgeschichte, nicht die noch so bestialischen Morde in den Bestsellern. Wenn Sie das Buch nicht kennen, lesen Sie doch mal in einer Buchhandlung nur die ersten drei Seiten. So gehen großartige Romananfänge.

Robert Louis Stevenson: Die Herren von Hermiston. Eine dieser kostenlosen Klassikerausgaben für den Kindle, leider ohne Übersetzerangabe – oder ich bin zu blöd, sie zu finden, das kann natürlich auch sein. Stevenson meisterhaft wie immer, ich habe es dennoch wieder weggelegt. Das klingt übrigens immer noch besser und gepflegter als wieder weggeklickt, nicht wahr? Tatsächlich wurde es sogar eher weggewischt, wenn man es sprachlich genau nimmt. Ein Zeigefingerstrich durchs Menü. Am Ende ist das Lesen auf dem Tablet vielleicht doch etwas herabwürdigend für die Werke, wer weiß. Ich kann im Frühling jedenfalls keinen englischen Klassiker lesen, der in Schottland spielt, das fühlt sich komisch an. Als würde man neben den blühenden Forsythien draußen am Spielplatz in der Sonne einen Glühwein trinken, das ist falsch. Das Buch gehört in den Oktober, vielleicht besser noch in den November.

Ulrich Hub: Füchse lügen nicht. Illustrationen von Heike Drewelow. Das ist ein Kinderbuch, aber die Söhne sind noch ein wenig zu klein, da fehlt ihnen noch zu viel Wissen, um die Anspielungen zu verstehen. Also selber hineingelesen – zwar nur ein paar Seiten, aber das werde ich auch weiter lesen, das gefällt mir. Das ist ein wenig Beckett für Jüngere, Tiere, die am Flughafen herumlungern und mehr oder weniger unbestimmt warten, die Situation wird immer absurder und grotesker. Hier eine schöne Rezension dazu, ich schreibe im nächsten Monat mehr.

Zwei weitere Bücher bereits hier erwähnt.

Vorgelesen

Roald Dahl: James und der Riesenpfirsich. Deutsch von Inge M. Artl und Kai Ohlen. Ein Buch, das mir schon in meiner Kindheit gefallen hat und das jetzt geradezu spektakulär gut bei den Söhnen ankommt, sogar bei beiden. Und das sich sehr gut vorlesen lässt, mit einem Spannungsbogen, der die Kinder geradezu atemlos zurücklässt. Sollte hier jemand versehentlich schwarzpädagogischen Erpressungen anhängen, ich erwähne das nur ganz diskret unter uns, dann ist dieses Buch wirklich bestens dafür geeignet. “Ich lese noch drei Seiten, wenn ihr…”

Die Eltern des kleinen James werden bereits auf der ersten Seite gefressen, das ist nicht schön, aber so ist es nun mal und danach kommt es erst richtig dicke für die Hauptfigur. Aber natürlich wird es auch wieder besser. Und wie! Das Buch kommt übrigens ohne zwischenzeilige Scherze für Erwachsene aus, keine Andeutungen, nichts, das Buch ist für Kinder und für die ist es perfekt. Nachdrückliche Empfehlung.

Gesehen

Nichts. Macht nichts.

Gespielt

Nichts. Macht auch nichts. Oder nur ein wenig Fussballgekicke auf dem Spielplatz, inkl. einer bemerkenswert erfolglosen Stunde vor einer Torwand, auf die Sohn I und ich pausenlos einschossen, ohne auch nur einen einzigen Treffer zu erzielen. Schlimm.

Aber darüber habe ich eben tatsächlich kurz nachgedacht, wieso spiele ich eigentlich nicht mit den Kindern? Die Antwort ist: weil die mit sich selbst spielen. Oder mit anderen Kindern. Es gibt so viele Kinder hier in der Stadtmitte, da sind immer mehrere Kinder bei uns oder unsere bei den anderen, da ziehen immer größere Kindergruppen um die Häuser, die haben gar nicht so viel Bedarf an pädagogisch wertvoller Bespaßung durch mich. Ich gehöre sicherlich zu den Vätern, die ziemlich oft verfügbar sind, vielleicht ist auch gerade deswegen die Nachfrage gar nicht so groß, BWLer verstehen das. Ich finde es jedenfalls toll, dass sie sich selbst beschäftigen können, auch fast tagelang, das fühlt sich alles ganz richtig an. Zum Vorlesen sind sie dann doch wieder an Bord.

 Gehört

JJ Cale. Den habe ich lange vergessen gehabt. Dann habe ich irgendwo das Cover zu “5” gesehen und mich erinnert, dass meine Mutter das Album früher endlos gespielt hat. Und dann fand ich ihn überraschend angenehm zum Arbeiten. Doch, kann man ruhig mal wieder hören. “Magnolia” zum Beispiel.

Und die passende Neuentdeckung zum frühen Frühling: Hindi Zahra. Das perlt.

 

Anders lesen

Ich komme gerade gar nicht dazu, die Leseliste für den März zu bloggen, aber das Format hat vermutlich ohnehin wenig Anhänger, also ist das wohl egal. Aber etwas ist vielleicht dennoch interessant, ich habe nämlich beim Lesen etwas umgestellt – und das werde ich wohl auch beibehalten.

Eine Umstellung, auf die ich durch meinen eigenen Wirtschaftsteil kam, da war nämlich neulich ein Link drin, in dem es um einen Imbiss  in den USA geht, der nur Gerichte aus den Regionen anbietet, mit den sich die USA gerade herumstreiten. Also etwa Kimchi aus Nordkorea usw. Und das, dachte ich, kann man ja auch literarisch ganz ähnlich umsetzen. Ich warte allerdings nicht auf tatsächliche, diplomatische oder potentielle Kriegshandlungen zwischen Deutschland und anderen Staaten, ich achte einfach darauf, was in den Nachrichten vorkommt. Also jetzt etwa die Ukraine. Kenne ich Literatur aus der Ukraine? Keine einzige Silbe. Kurz recherchiert und ein Buch bestellt, reingelesen und ganz schnell ein interessantes, aufregend anderes Bild von Kiew im Kopf gehabt. Obwohl das kein ukrainischer Dichter war, sondern ein Russe aus Kiew, aber das passt natürlich in dem Fall schon. Andrej Kurkow, “Picknick auf dem Eis”, ein Roman aus der Ukraine in der Postsowjetzeit, übersetzt von Christa Vogel. Also ein Roman aus einer beinharten Zeit. Ukrainer würden evtl. bezweifeln, dass sie dort jemals andere Zeit erlebt haben, schon klar.

Ein Journalist schreibt in diesem Roman Nachrufe auf Vorrat für eine Zeitung. Als die Menschen passend zum Timing seiner Nachrufe zu sterben beginnen, eskaliert die Angelegenheit bemerkenswert schnell, fordert beträchtlich viele Menschenleben – und die ganze Zeit begleitet die Hauptfigur ein depressiver Pinguin als Haustier, den der Zoo mangels Futter irgendwann loswerden musste. Ein Pinguin, dessen seltsam niederschmetternde Anwesenheit in der Wohnung man nach den ersten 100 Seiten förmlich spüren kann. Und ja, das Buch lohnt schon wegen des Pinguins.

Ich weiß jetzt natürlich nicht mehr über die Lage in der Ukraine. Aber die Nachrichten sind doch anders geworden. Ich sehe andere Bilder zu Kiew, ich weiß ein paar Kleinigkeiten mehr aus dem Alltag dort, ich weiß, welche Szenen man sich dort als Autor vorstellen kann oder konnte. Das dreht dann doch ein wenig mehr Farbe ins Bild.

Parallel dazu lese ich weiterhin den Rumänen Panait Istrati, im Moment “Codin”, das ist ein schmaler Band aus seinem nicht ganz kleinen Erzählwerk. Aus dem Französischen von Elisabeth Eichholtz. Da geht es um wüste, wirklich wüste Lebensläufe aus einer Region Europas, in der einmal so viele Sprachen und Völker durcheinander lebten, dass man beim Lesen gar nicht mehr mitkommt. Man versteht aber doch, dass die Menschen damals, vor dem Zweiten Weltkrieg, ganz selbstverständlich miteinander und durcheinander lebten, auf engem Raum. Sie teilten Straßen, Häuser und Geschichten, natürlich auch Liebesgeschichten, und trugen doch ihre Aversionen gegen die jeweils anderen, gegen die Griechen, Juden, Rumänen, Türken, Armenier, Serben, Deutsche wie geladene Waffen mit sich herum, man ahnt die Gefahr auf jeder Seite.

Das lese ich abends und morgens sehe ich, wie die rumänischen Obdachlosen hier ihre Matratzen vor der Kirche einrollen und für den Tag wieder in den Büschen am Spielplatz verstecken. Wenn man diese Menschen nicht als Nachrichteninhalt sieht, sondern als Menschen, dann sind das die Hauptfiguren für einen Istrati von heute. Und das mit den geladenen Waffen, das würden sie vermutlich unterschreiben, wenn sie sich die Gesichter der Deutschen so ansehen. Panait Istrati ist ein großartiger Erzähler, das hat Kawumm und Druck, den kann ich sehr empfehlen, der ist viel zu vergessen.

Zu jeden Nachrichtenthema wird man nicht gerade ein Buch lesen können. Aber so ab und zu? Im Moment liest man viel aus der Türkei in den Nachrichten. Demnächst liegt dann also auch ein Roman von da auf meinem Nachttisch. Empfehlungen gerne in die Kommentare, ich kenne sehr wenig Bücher aus der Türkei.

 

10

Die ersten zehn Jahre hat dieses Blog dann also geschafft, das ging ja verblüffend fix. Ich erzähle jetzt nicht zum hundertsten Mal, warum es ausgerechnet an einem 1. April gestartet wurde, das fällt allmählich sicher schon unter “Opa erzählt vom Krieg”, das will man nicht.

Vor zehn Jahren war die Herzdame noch meine Verlobte, vor zehn Jahren habe ich noch ganztags im Büro gearbeitet und zuhause haben keine Kinder auf mich gewartet, das kann ich mir alles kaum noch vorstellen.

Mittlerweile sind hier im Blog unzählige Geschichten über die Herzdame und die Söhne erschienen, mittlerweile finanziert das Schreiben für Magazine, Zeitungen und andere Kunden jeden Monat einen erheblichen Teil des Haushalts. Ohne das Blog würde ich einen ganz anderen Freudeskreis haben, eine ganz andere Freizeit, ein anderes Leben. Vielen Dank an die Leserinnen und Leser, die das begleitet haben, kommentiert haben, weiterempfohlen haben, ich freue mich nach wie vor jeden Tag darüber. Und Dank natürlich an die Herzdame, die es seit zehn Jahren aushält, Content zu sein, das ist ganz sicher auch eine Leistung. Und eine Frau, die nach zehn Jahren immer noch für Content sorgt, die war dann ganz sicher auch die richtige Wahl, um einmal eine neue, zeitgemäße Messeinheit dafür einzuführen. Dass ich mich nach zehn Jahren immer noch neu in sie verlieben kann, das ist dabei natürlich auch ganz praktisch.

Und ich denke übrigens immer noch nach jedem Eintrag, das mir jetzt aber sicher nie wieder etwas einfallen wird. Das scheint sich also dauerhaft nicht zu geben, zehn Jahre können dabei wohl als Langzeitversuch durchgehen, nehme ich an. Auch gleich, nach dem Absenden dieses Textes, wird es vermutlich wieder so sein.

Ich habe sehr viele Menschen durch das Blog kennengelernt, darunter auch solche, die ich im Grunde gar nicht treffen dürfte, wie etwa Isa. Mit Isa gemeinsam komme ich nämlich dauernd auf Ideen und Projekte, das ist wirklich schlimm und sehr zeitaufwändig. Aus reinem Selbstschutz vergessen wir die meisten Ideen gleich nach unseren Treffen wieder, wir würden sonst wirklich zu gar nichts mehr kommen.

Jetzt haben wir aber doch mal ein Projekt gemeinsam umgesetzt und festgestellt, dass wir auch noch toll zusammen arbeiten können, das verkompliziert die Sache leider erheblich. Jetzt haben wir nämlich noch tausend gemeinsame Termine mehr, nicht auszudenken, wohin das führen soll. Erst einmal führt es aber auf eine neue Seite, auf ein neues Projekt.

“Was machen die da” ist die Umsetzung einer unserer gemeinsamen Ideen. Wir befragen Menschen, die das gerne machen, was sie machen, zu dem, was sie gerade machen, fotografieren sie dabei und bloggen das. Auf einem brandneuen Blog, in wunderbarer Teamarbeit für uns aufgesetzt von Sylvia Oberstein und Christian Fischer.

Wobei wir auch der GLS Bank zu danken haben, die durch den regelmässigen Wirtschaftsteil bereits mit den Herzdamengeschichten als Sponsor kooperiert und sich auch nicht gescheut hat, ein Blog, das es bis heute nur als Idee und Skizze gab, zum Start zu unterstützen. Das wäre sicher vor ein paar Jahren so noch nicht möglich gewesen, das ist eine sehr schöne Entwicklung. Trotz des Datums ist auch das neue Blog übrigens kein Aprilscherz, falls jemand gerade querlesend nach der Pointe sucht.

Isa und ich erzählen drüben im neuen Blog nichts, wir lassen die Leute reden. Von ihren Berufen, Ehrenämtern, Hobbys, was auch immer. Wenn es dazu noch etwas zu erzählen gibt – und das wird ganz sicher so kommen – dann erzählen wir es wie gehabt in unseren Blogs, das wird also eine Art Dreiklang und gehört zusammen. Wir spielen uns dort jetzt erst einmal warm. Geplant ist, jeden Dienstag einen Text erscheinen zu lassen. Aber mit Plänen ist es manchmal so eine Sache, vielleicht werden es auch mehr Einträge. Oder weniger? Wir gucken mal, was geht.

Blogheader-1

 

Woanders – diesmal mit der Elternzeit, den Kammerspielen, Instagram und anderem

Notizen aus der Elternzeit. Der Zettel hätte hier so auch hängen können. Textgleich.

Ein nicht ganz so bekannter Aspekt der Hamburger Kammerspiele.

Darf man Essen im Restaurant fotografieren? Siehe dazu auch hier.

Isa mit dem Service für Suchende.

Studenten und Rechtschreibung. Früher war alles besser. Wir bekamen ja bei einer Sechs im Diktat noch eine gelangt! Ach nee, war auch doof.

Bilder: japanische Gullydeckel.

Bilder: Kinder in syrischen Flüchtlingscamps – keine Angst, keine Horrobilder. Oder doch, wie sollte es anders sein. Aber anders, als man zunächst denken könnte.

 

Service

In dem Coffee-Shop, in dem ich mir ab und zu einen Kaffee zum Mitnehmen besorge, ist das Personal bestens geschult. Ausgesucht höflich und hilfsbereit. Kein Dialog ohne “Guten Morgen”, ohne “Was darf es noch sein”, ohne “Schönen Tag”. Sie reichen dort den Kaffee über den Tresen, als hätten sie einem Kronjuwelen in den Becher gefüllt. Sie erinnern die Kaffee-Vorlieben, als wäre man der prominenteste Stammgast. Der Laden ist natürlich auch mit Liebe zum Detail eingerichtet. Der Kuchen in der Auslage sieht aus wie aus einem edlen Fotoband, die belegten Brötchen, als hätte sie eine italienische Großmama eben gerade auf Sizilien aus dem Ofen gezogen und mit frisch im Garten gepflückten Tomaten belegt.  Die Kaffeesorten werden auf einer schwarzen Tafel angepriesen, elegante Deko-Schrift in weißer Kreide, sehr kunstvoll.  Ist das nicht toll, das alles?

Und dann geht man mit dem offenen Pappbecher in eine Ecke des Ladens, in der alle Herrlichkeit endet. Da liegen Zuckertütchen auf einem Tisch,  Servietten, Plastiklöffel  und Deckel, denn man braucht ja einen Deckel für den Kaffee. Und den muss man selber draufmachen. Andere Kunden haben da schon Zucker verstreut, die Deckelstapel sind längst umgekippt, alles liegt wild durcheinander. Man muss selber herausfinden, welche der 3 Deckelgrößen auf den Becher passt. Man kleckert bei der Deckelprobe mit dem Milchschaum, niemand kümmert sich um die Pfützen, die andere vor einem hinterlassen haben. Weit hinten sieht man die freundlichen Verkäuferinnen andere Kunden bedienen, aber man steht jetzt in einer komplett service-freien Zone, von allem Personal verlassen. Und oben drüber über diesem Chaos hängt ein Schild, auf dem steht: “Service-Station”.

Ich liebe diesen feinen Humor.

(Dieser Text erschien als Sonntagskolumne in den Lübecker Nachrichten und in der Ostsee-Zeitung)

Kurz und klein